Interview mit dem Rechtswissenschaftler Prof. Dr. Georg Nolte "Das Völkerrecht ist belastbarer, als viele denken"

Professor Nolte, vor dem Hintergrund aktueller internationaler Krisen und Konflikte: Wie ist es heute um das Völkerrecht bestellt? Schließlich zeigt sich, dass einige Staaten internationale Rechtsnormen nicht mehr in vollem Maße anerkennen und sogar die Idee einer globalen, auf Regeln basierenden Ordnung infrage stellen.

Das Völkerrecht ist belastbarer, als viele denken. Es besteht aus sehr unterschiedlichen Ver­trägen und allgemeinen Regeln. Deshalb muss man mit Aus­sagen über das Völkerrecht insgesamt vorsichtig sein. Es ist aber richtig, dass einige wichtige Regeln des Völkerrechts im Augen­blick von manchen Staaten infrage gestellt werden. Es sind auch Regeln gebrochen worden. Ich glaube aber nicht, dass die Idee einer glo­balen, auf völker­recht­lichen Regeln basierenden internationalen Ordnung damit ernsthaft und lang­fris­tig infrage gestellt ist. Verstöße können sogar zu einer Bekräftigung von Regeln führen, wenn der Widerstand dage­gen breit ge­nug ist und es erkennbar wird, dass sich Verstöße langfristig nicht auszahlen.

Als Hauptrechtsprechungsorgan der Vereinten Nationen hat der Internationale Gerichtshof seinen Satz im Friedenspalast im niederländischen Den Haag.

Dem UN-Sicherheitsrat wird des Öfteren vorgeworfen, wegen des Vetorechts seiner ständigen Mitglieder häufig beschluss- und dadurch handlungsunfähig zu sein. Ist es nicht allmählich Zeit für eine Reform dieses Gremiums?

Eine Reform des UN-Sicherheitsrats ist sicherlich wünschenswert. Der Sicherheitsrat sollte durch eine Erweiterung der Zahl seiner Mitglieder breiter legitimiert werden, und das Vetorecht sollte möglichst begrenzt werden. Es stimmt, dass der Sicherheitsrat heute bei wichtigen Konflikten nicht aktiv genug eingreift. Allerdings ist es auch richtig, dass der Sicherheitsrat heute immer noch aktiver ist als zur Zeit des Kalten Krieges. Man sollte darüber hinaus bedenken, dass es leichter ist, den Sicherheitsrat zu kritisieren, als Reformvorschläge zu entwickeln, die praktikabel und weitestgehend akzeptabel sind. Solange solche Reformvorschläge nicht unter Reformdruck diskutiert werden, müssen wir mit dem leben, was wir haben. Eine Welt ohne Si­cherheitsrat wäre bestimmt nicht besser.

In der Praxis gibt es beim Völkerrecht immer wieder strittige Fälle, wie etwa bei der Abspaltung der Krim von der Ukraine vor etwa fünf Jahren. Wie beurteilen Sie die Lage aus der heutigen Perspektive?

Die Tatsache, dass ein Fall strittig ist, bedeutet nicht, dass völkerrechtliche Regeln bei seiner Behandlung keine Rolle spielen. Die große Mehrheit der Staaten betrachtet die Krim weiterhin als Teil der Ukrai­ne. Diese Staaten handeln auch entsprechend, etwa indem sie jetzt keine direkten Verkehrs- oder Handelsverbindungen dorthin zulassen und die Russische Föderation mit Sanktionen wegen Bruchs des Völkerrechts belegt haben. Dass dieses Vorgehen nicht schnell zum Erfolg führt, spricht nicht gegen die völkerrechtliche Regel. Das Völkerrecht funktioniert als dezentrale Rechtsordnung häufig langsamer als eine staatliche Rechts­ord­nung.

Seit über zehn Jahren sind Sie an der Humboldt-Universität zu Berlin am Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Völker- und Europarecht tätig. Welche Themen diskutieren Sie dort besonders gern mit Ihren Studenten?

Ich spreche mit meinen Studierenden gern über aktuelle Fälle, in denen allge­mei­nere Fragen erkennbar werden. Zum Beispiel darüber, wer unter welchen Be­dingungen bei einer Hun­gers­not oder einer Naturkatastrophe Hilfsmittel in ein Land bringen darf. Im aktuellen Fall Ve­ne­zuela hat sich diese Frage nicht zum ersten Mal gestellt. So hat etwa die Re­gierung von Myanmar nach einer Naturkatastrophe im Jahr 2008 keine Hilfe ins Land gelassen. Mit den Stu­dierenden überlege ich dann, welche Gemeinsamkeiten und welche Unterschiede zwi­schen solchen Fällen beste­hen, und ob die Unterschiede rechtlich relevant sind. Bei solchen Diskussionen kann ich manchmal auch auf meine Arbeit in der Völkerrechts­kom­mission der Ver­ein­ten Na­tionen zurückgreifen, zum Beispiel auf die Prinzipien zum „Schutz von Per­sonen im Fall von Katastrophen“, die die Kommission im Jahr 2016 verabschiedet hat.

Darüber hinaus gehören Sie dem Völkerrechtswissenschaftlichen Beirat des Auswärtigen Amts an. Könnten Sie uns vielleicht Ihre Arbeit dort näher beleuchten?

Dreimal im Jahr bespricht die Rechtsabteilung des Auswärtigen Amts aktuel­le völker­rechtliche Fragen mit Kolle­gin­nen und Kollegen von ver­schiedenen deutschen Univer­sitäten. In diesem Völker­rechts­wis­senschaftlichen Beirat geht es nicht um die Erstellung von schriftlichen Gutachten oder gar um die Beteiligung von Externen an Entscheidungen. Vielmehr wird im Bei­rat berichtet und diskutiert. Zum Beispiel über völker­rechtliche Grenzen von Cy­ber-Ver­tei­digung und Cyber-Abwehr, oder über die rechtlichen Mög­lich­keiten für Staaten, die huma­ni­täre Situation in Syrien unter den gegebenen schwierigen Umständen zu verbessern. Das Aus­wärtige Amt erhält durch solche Diskussionen nicht nur er­gän­zenden Sachverstand, sondern kann auch eigene Überlegungen erproben.  

Ende letzten Jahres wurde Ihre Kandidatur für die Wahl zum Richter des Inter­na­tio­nalen Gerichtshofs für den Zeitraum 2021-2030 bekanntgegeben. Die Wahl wird im Herbst 2020 während der 75. Tagung der Generalversammlung der Vereinten Nationen stattfinden. Was reizt Sie an dieser Aufgabe besonders?

Der Internationale Gerichtshof entscheidet über Rechtsfälle zwischen Staaten und erstattet Gutachten für UN-Organe. Als Hauptrechtsprechungsorgan der Vereinten Nationen hat er eine beson­dere Verantwortung für die friedliche Beilegung von Streitigkeiten zwischen Staaten und für die Verdeutlichung von Völkerrecht. Besonders wichtig finde ich, dass der Ge­richtshof zu Entscheidungen gelangt, die sowohl dem Einzelfall gerecht werden als auch allgemein rechtlich überzeugend begründet sind. Dies zu er­rei­chen ist oft nicht leicht. Ich möchte gern einen Beitrag dazu leisten, dass der Gerichtshof diesen Anspruch erfüllt. Dabei würde ich auch gern deutsche Erfahrungen, positive ebenso wie negative, als Teil des allgemeinen internationalen Er­fah­rungsschatzes einbringen. Schließlich spü­re ich, und das klingt hoffentlich nicht un­bescheiden, eine gewisse Mitverantwortung dafür, dass das Völker­recht gepflegt und allgemein ge­ach­tet wird. Der Gerichtshof spielt dabei eine zentrale Rolle.

Bei allen Ämtern, die Sie bekleiden; womit beschäftigen Sie sich gern privat?

Meine Eltern haben die Lust am Reisen in andere Länder in mir geweckt. Heute reise ich gern mit meiner Frau. Ich habe auch Freude an Diskussionen mit unserer neunzehnjährigen Tochter. Sonst unternehme ich gern Fahrradtouren, gehe ins Theater, treffe Freunde, und lese manchmal sogar Bücher, die keinen Bezug zum Völkerrecht haben.

Professor Nolte, vielen Dank für das Gespräch.

INTERVIEW Markus Feller