Interview mit dem Botschafter von Vietnam S.E. Nguyen Minh Vu "Vietnam verfügt über eine robuste Wirtschaft mit einem attraktiven Geschäftsumfeld"

Herr Botschafter, wie würden Sie die vietnamesisch-deutschen Beziehungen von heute beschreiben?

Ende Dezember 2018 habe ich mein Amt angetreten, Ende Februar Präsident Steinmeier mein Mandat übergeben und seitdem kaum eine ruhige Woche gehabt. Mein Kalender war immer vollgepackt mit Besuchen von hochrangigen vietnamesischen Beamten, Vorsitzenden von Volkskomitees der Städte und Provinzen, Leitern von Sozialorganisationen und Wirtschaftsdelegationen, die mit unseren deutschen Kollegen über die Zusammenarbeit in einer Vielzahl von Themen und Bereichen diskutieren.
Ein klarer Beweis für die deutsch-vietnamesische Strategische Partnerschaft ist, dass der Austausch von Besuchen zwischen den beiden Ländern in hohem Tempo, auf verschiedenen Ebenen und in unterschiedlichen Bereichen stattfindet. Allein in der ersten Jahreshälfte 2019 besuchten mehrere vietnamesische Führungskräfte Deutschland – darunter der stellvertretende Premierminister, Außenminister Pham Binh Minh, der Minister für Planung und Investitionen Nguyen Chi Dung, der Minister für Industrie und Handel Tran Tuan Anh. Auf deutscher Seite besuchten auch Wirtschaftsminister Peter Altmaier und Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow Vietnam. Bei diesen Besuchen wurden Abkommen und Dokumente unterzeichnet, die den Rahmen für die Verbesserung der bilateralen Beziehungen in den Bereichen Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Technologie und Arbeit bilden, um nur einige zu nennen.
Darüber hinaus wurden die regelmäßigen Dialoge und Konsultationen in den Bereichen Außenpolitik, Sicherheit und nationale Verteidigung, Wirtschaft, Justiz und Entwicklungszusammenarbeit verstärkt, was dazu beiträgt, die bilateralen Beziehungen effektiver und sinnvoller zu gestalten. Es wurden Maßnahmen zur Beschleunigung der Zusammenarbeit in priorisierten Bereichen erörtert, einschließlich der Bereiche Innovation und Digitaltechnik, die in der kommenden Zeit einen neuen Schwerpunkt unserer bilateralen Zusammenarbeit bilden.
In der multilateralen Zusammenarbeit koordinieren und unterstützen sich Vietnam und Deutschland seit jeher eng in regionalen und internationalen Foren wie den Vereinten Nationen, der ASEAN-EU-Tagung und des Asien-Europa-Treffens (ASEM). Angesichts komplexer Herausforderungen setzen sich sowohl Vietnam als auch Deutschland weiterhin für Freihandel, Multilateralismus und eine regelbasierte internationale Ordnung ein. Das sind wichtige Punkte, in denen die bilateralen Beziehungen in größerem Umfang und mit mehr Substanz gestärkt werden können, um zu Frieden und Stabilität in unseren beiden Regionen und der Welt beizutragen.

Das Jahr 2020 wird zudem im Zeichen des Jubiläums „45 Jahre diplomatische Beziehungen Deutschland-Vietnam“ stehen. Was dürfen wir in Deutschland erwarten?

Vietnam und Deutschland nahmen am 23. September 1975 diplomatische Beziehungen auf. Unsere beiden Länder werden im Jahr 2020 den 45. Jahrestag dieses Ereignisses feiern. Das Jahr 2020 ist auch ein wichtiger Meilenstein für beide Länder: Vietnam feiert den 75. Jahrestag seiner Unabhängigkeit und Deutschland den 30. Jahrestag der Deutschen Einheit. Vietnam und Deutschland werden beide als nichtständige Mitglieder des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen fungieren und Schlüsselrollen als ASEAN-Vorsitz 2020 beziehungsweise EU-Ratspräsidentschaft 2020 übernehmen. Auch die vietnamesische Gemeinschaft in Deutschland wird 45 Jahre der Integration feiern. In beiden Ländern werden zahlreiche Gedenkveranstaltungen erwartet.
Wir haben mit dem Außenministerium und dem Kulturministerium Vietnams, dem Auswärtigen Amt und anderen deutschen Partnern, dem Verein Vietnamesisch-Deutsche Freundschaftsgesellschaft und Vertretern der vietnamesischen Gemeinschaft hier in Deutschland über diese Veranstaltungen gesprochen. Wir planen, das ganze Jahr über verschiedene Feierlichkeiten an verschiedenen Orten durchzuführen. Diese Veranstaltungen werden in verschiedenen Formaten stattfinden, um die vielfältigen bilateralen Beziehungen widerzuspiegeln, die vom Gesangswettbewerb über Sportturnier, Besuchsaustausch, Kunstausstellung und Filmfestival bis Seminar usw. reichen. Mit diesem Plan wollen wir unseren deutschen Freunden die Schönheit des Landes, der Menschen und der Geschichte Vietnams und die guten traditionellen Beziehungen zwischen Vietnam und Deutschland vorstellen, um das gegenseitige Verständnis und Vertrauen zu stärken und die beiden Völker einander näherzubringen.

Würden Sie unseren Lesern verraten, was das Deutsche Haus in Ho-Chi-Minh-Stadt ist?

Ich hatte die Möglichkeit, das Deutsche Haus in Ho-Chi-Minh-Stadt zu besuchen, bevor ich Vietnam verließ. Das ist ein 25-stöckiges Gebäude mit moderner Architektur, Energieeffizienz, optimalem Nutzen, das an einem sehr günstigen Standort liegt. Für sein Design in Vietnam und Südostasien wurde das Deutsche Haus mit verschiedenen Preisen ausgezeichnet. Hier werden Vertreter und namhafte Unternehmen wie das Deutsche Konsulat, die AHK, Adidas, Apple, etc. ansässig sein. Nun, ich kann sagen, dass dieses Deutsche Haus das erste ausländische Projekt in Vietnam war, bei dem deutsches Staatsvermögen zum Wohle des Landes und der Wirtschaft in Deutschland eingesetzt wurden und das ein positives Bild von Deutschland in Vietnam zeichnete.  
Das Deutsche Haus ist ein Pilotprojekt in den bilateralen Beziehungen, ein Symbol für die strategische Partnerschaft zwischen Vietnam und Deutschland.

Wenn man an Autos denkt, fällt einem nicht sofort Vietnam ein. Das soll sich mit dem Projekt „VinFast“ in Zukunft ändern. Erzählen Sie uns doch bitte davon.

VinFast wurde aus dem Wunsch heraus geboren, eine vietnamesische Automobilmarke von Weltklasse aufzubauen und gleichzeitig zur Förderung einer führenden Industrie in Vietnam beizutragen. Nach fast zwei Jahren hat VinFast den Bau und die Installation der Fabriken abgeschlossen und auch die ersten Autos auf den Markt gebracht. Mit einer Auslegungskapazität von 250.000 Fahrzeugen pro Jahr für Phase 1 und 500.000 Fahrzeugen pro Jahr für Phase 2 will VinFast ein führender Automobilhersteller in Südostasien werden.
Das Unternehmen treibt auch die Forschung und Entwicklung von Fahrzeugen mit sauberer Energie, wie Elektroautos und intelligente Elektromotorräder, voran, mit dem Ziel, die Gasemissionen und den Lärm in der Umwelt deutlich zu reduzieren.
VinFast baut auch in vielerlei Hinsicht auf der Zusammenarbeit mit Deutschland auf. Von Anfang an hat VinFast mit mehreren Partnern aus Deutschland wie Schuler, FFT, EBZ, Dürr, Grob-Werke, MAG, AVL oder Eisenmann bei der Planung und Installation der Fabriken zusammengearbeitet. Das Herzstück der VinFast-Autos – der Motor – verkörpert den deutschen Geist, da die Autos auf der modernen Technologie von BMW aufbauen. Derzeit arbeitet VinFast eng mit der AHK zusammen, um qualitativ hochwertige Arbeitskräfte durch ein paralleles theoretisches und praktisches Programm auszubilden. Ein in Zusammenarbeit mit der AHK entwickeltes Trainingszentrum wird sich in Zukunft zur größten Personalquelle für die 4.0-Technologieproduktion in Südostasien entwickeln.

„Trotz eines herausfordernden globalen Kontexts erzielt Vietnam weiterhin ein robustes Wachstum bei moderater Inflation und einem relativ stabilen Wechselkurs“, sagte Ousmane Dione, der Weltbank-Landesdirektor für Vietnam. Worauf führen Sie diese positive Entwicklung zurück?

Erstens denke ich, dass der Hauptgrund für den Erfolg der vietnamesischen Wirtschaft in den letzten Jahren auf die Ergebnisse der wirtschaftlichen Umstrukturierung in die richtige Richtung, der effektiven Verbesserung des Geschäftsumfelds und der aktiven Förderung der Rolle des Entwicklungsstaats zurückzuführen ist. Das Geschäftsumfeld in Vietnam hat sich deutlich verbessert. Die Wirtschaft hat von den Reformen profitiert, indem sie die Bedingungen für Investitionen reduziert, die Verwaltungsverfahren und die Politik zur Unterstützung der Unternehmensentwicklung vereinfacht hat.
Zweitens wurden die eigenen Stärken der vietnamesischen Wirtschaft effektiv genutzt. Der Privatsektor entwickelt sich robust und macht mit mehr als 40 Prozent derzeit den größten Teil der Wirtschaft aus, und dieser Anteil wird voraussichtlich weiter steigen. Insbesondere die Gründungs- und Innovationswelle in Vietnam trägt zum Wirtschaftswachstum bei, indem sie Kapital mobilisiert und die gut ausgebildete und technisch versierte junge Bevölkerung nutzt.
Gleichzeitig tragen der beschleunigte Prozess der Privatisierung staatlicher Unternehmen und das verbesserte öffentliche Verwaltungssystem zu einer besseren Nutzung der wirtschaftlichen Ressourcen bei. Die Reallohnerhöhung dank einer erfolgreichen Wirtschaft und der derzeit optimalen Bevölkerungsstruktur des Landes tragen dazu bei, die Binnennachfrage und den Konsum zu steigern.
Drittens hat Vietnam externe Ressourcen effektiv für die wirtschaftliche Entwicklung genutzt. In mehr als 30 Jahren Reformprogramm (Doi Moi) und zwölf Jahre nach dem Beitritt zur WTO hat sich die vietnamesische Wirtschaft zunehmend in die regionale und globale Wirtschaft integriert.
Vietnam ist inzwischen 13 bilateralen und multilateralen Freihandelsabkommen beigetreten und hat sie abgeschlossen, darunter hochwertige Freihandelsabkommen der neuen Generation wie die Transpazifische Partnerschaft (CPTPP) oder das EU-Vietnam-Freihandelsabkommen (EVFTA) mit umfangreichen Verpflichtungen und hohen Standards in vielen Bereichen. Diese Freihandelsabkommen bieten weitere Anreize für das Wirtschaftswachstum und schaffen Möglichkeiten, mehr ausländische Investitionen anzuziehen.
Darüber hinaus hat Vietnam stets die politische, soziale und makroökonomische Stabilität gewahrt. Rechtsinstitutionen und Transparenz werden ständig verbessert, sodass ausländische Investoren und Unternehmen langfristige Geschäftspläne erstellen und an regionalen und globalen Wertschöpfungsketten teilnehmen können.

Profitiert Vietnam vom Handelsstreit zwischen den USA und China?

Was den Handelskonflikt zwischen den USA und China betrifft, so ist dies meiner Meinung nach ein Anliegen für die gesamte internationale Gemeinschaft, da es den Welthandel und die Stabilität der Weltwirtschaft erheblich beeinträchtigt. Dies gilt insbesondere für Vietnam, da wir zu den Ländern mit der höchsten Integration in die Weltwirtschaft gehören. Es kann sein, dass Vietnam durch die Umgestaltung der Handels- und Investitionsströme kurzfristig gewisse Vorteile hat, und Vietnam muss diese Chancen nutzen, um seine Position in den globalen Wertschöpfungsketten zu verbessern. Langfristig wird Vietnam jedoch, wie andere Länder auch, negative Auswirkungen des Handelskonflikts zwischen den USA und China spüren. Von Anfang an hat Vietnam die internationale Integration unseres Landes unterstützt und sich aktiv am Aufbau eines offenen, fairen und regelbasierten internationalen Handelssystems beteiligt. Vietnam hofft daher, dass China und die Vereinigten Staaten die Streitigkeiten im Geiste des gegenseitigen Respekts, der Zusammenarbeit und des Verständnisses im Einklang mit dem Völkerrecht und den Verpflichtungen, insbesondere den Grundsätzen der WTO, rasch durch Dialog und Verhandlungen lösen können.

Ende Juni wurde das Freihandels- und Investitionsschutzabkommen zwischen Vietnam und der EU unterzeichnet. Was sind dessen wesentliche Eckpunkte?

Das Vietnam-EU-Freihandelsabkommen und das Investitionsschutzabkommen (EVFTA und EVIPA) wurden in Hanoi nach neunjährigen Verhandlungen offiziell unterzeichnet. Dies gilt als historisches Ereignis in den Beziehungen zwischen Vietnam und der EU und wird voraussichtlich beispiellose Möglichkeiten für Unternehmen, Verbraucher und Arbeitnehmer in Europa und Vietnam eröffnen.
Die WTO und die EU betrachten dies als ein „umfassendes, qualitativ hochwertiges Freihandelsabkommen der neuen Generation“, das Handel und Investitionen mit „Sozial-, Arbeits- und Umweltstandards sowie integrativen und nachhaltigen Entwicklungszielen“ verknüpft. Dies sind auch die ersten Handels- und Investitionsabkommen der neuen Generation, die die EU mit einem Land mittleren Einkommens abgeschlossen hat.
Das EVFTA sieht die nahezu vollständige Beseitigung von Zollschranken vor. Dementsprechend werden 65 Prozent der Zölle auf EU-Exporte nach Vietnam abgeschafft, während die restlichen über einen Zeitraum von zehn Jahren schrittweise wegfallen werden. 71 Prozent der Zölle werden auf vietnamesische Ausfuhren in die EU beseitigt, die restlichen werden über einen Zeitraum von sieben Jahren abgebaut.
Im Bereich der nichttarifären Handelshemmnisse wird sich Vietnam stärker an die internationalen Normen für Kraftfahrzeuge und Arzneimittel anpassen. Infolgedessen werden EU-Produkte keine zusätzlichen vietnamesischen Prüf- und Zertifizierungsverfahren erfordern. Vietnam wird auch die Zollverfahren vereinfachen und standardisieren.
EU-Unternehmen werden in der Lage sein, um vietnamesische Regierungsaufträge zu konkurrieren, und umgekehrt. Was den Handel mit Wertpapierdienstleistungen betrifft, so sind die EU und Vietnam entschlossen, ein offenes und günstiges Investitionsumfeld für Unternehmen beider Seiten zu schaffen. Das Freihandelsabkommen wird es EU-Unternehmen erleichtern, auf dem vietnamesischen Dienstleistungsmarkt tätig zu sein, einschließlich der Bereiche Post, Banken, Versicherungen, Umwelt und anderer Dienstleistungen. Die vietnamesischen Produktionssektoren wie Lebensmittel, Reifen und Baumaterialien werden sich für EU-Investitionen öffnen.
Im Rahmen des EVIPA verpflichten sich Vietnam und die EU, der anderen Vertragspartei mit einigen Vorbehalten eine Inländerbehandlung und eine Meistbegünstigung zu gewähren. Beide Seiten verpflichten sich auch, einen gleichwertigen, zufriedenstellenden, sicheren und angemessenen Schutz zu gewähren, den freien Kapitaltransfer und die Gewinne aus Investitionen ins Ausland zu ermöglichen, von der Beschlagnahme oder Verstaatlichung des Vermögens ausländischer Investoren ohne zufriedenstellende Entschädigung abzusehen und den Anlegern der anderen Partei Schadensersatz zu leisten, zum Beispiel bei kriegsbedingten Schäden.

2012 wurde die „Vietnam Green Growth Strategy“ verabschiedet. Worauf zielt sie ab?

Als eines der vom Klimawandel stark betroffenen Länder hat Vietnam beschlossen, dass grünes Wachstum der einzige Weg ist, um sich auf die Zukunft einzustellen. Im Jahr 2012 unterzeichnete der vietnamesische Premierminister einen Beschluss über die Genehmigung der „Grünen Wachstumsstrategie“ mit dem Ziel, den Prozess der wirtschaftlichen Umstrukturierung zu beschleunigen, um natürliche Ressourcen effizient zu nutzen, die Treibhausgasemissionen durch Forschung und Anwendung moderner Technologien zu verringern, die Infrastruktur zur Verbesserung der Effizienz der Wirtschaft insgesamt zu entwickeln, den Klimawandel zu bewältigen, zur Armutsbekämpfung beizutragen und das Wirtschaftswachstum nachhaltig zu fördern. Die Strategie legt drei spezifische Ziele fest:
Erstens, die „grüne Produktion“ durch effizientere Nutzung von Ressourcen und neuen Technologien zu fördern. Mit diesem Ziel sollen eine nachhaltige Produktion, bereits umweltfreundliche Unternehmen und die Gründung neuer umweltfreundlicher Unternehmen gefördert werden. Zweitens, die Intensität der Treibhausgasemissionen um acht bis zehn Prozent gegenüber dem Niveau von 2010 zu reduzieren und den Energieverbrauch pro Einheit des BIP um 1-1,5 Prozent pro Jahr zu senken. Und drittens, einen „grünen“ Lebensstil und nachhaltigen Konsum zu fördern.
Als Entwicklungsland steht Vietnam vor vielen Herausforderungen, aber die grüne Wachstumsstrategie beweist unser volles Engagement, gemeinsam mit der internationalen Gemeinschaft den Klimawandel zu bewältigen. Gleichzeitig ist es für uns auch eine Chance, das Leben unserer Menschen zu verbessern, indem wir den Prozess der wirtschaftlichen Umstrukturierung in Richtung Nachhaltigkeit beschleunigen und die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft erhöhen.

Herr Botschafter, haben Sie vielen Dank.

INTERVIEW Enrico Blasnik