Deutsches Institut für Entwicklungspolitik Spiel mit dem Feuer - Brasiliens Dilemma im EU-Mercosur-Handelsabkommen

Nach annähernd 20 Jahre dauernden Stop-and-go-Verhandlungen einigen sich die EU und der südamerikanische Handelsblock Mercosur – bestehend aus Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay – Ende Juni 2019 auf den Abschluss eines gemeinsamen Handelsabkommens. Nach der noch ausstehenden Ratifizierung soll so die größte Freihandelszone der Welt entstehen. Der Abbau von über 90 Prozent der bestehenden Zölle ist in einer Übergangsphase von zehn Jahren geplant, und der kürzlich aus dem Amt ausgeschiedene EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker feierte das Abkommen bereits als einen „historischen Moment“. Ein positives Signal für den Multilateralismus in einer Handelswelt, in der der Protektionismus (wieder) zur Normalität zu werden scheint.
Im Zuge des Abkommens will der Mercosur seinen, bisher durch hohe Außenzölle geschützten, Markt spürbar für komplexere Industriegüter wie Autos oder Maschinen liberalisieren. EU-Zölle fallen im Gegenzug hauptsächlich für landwirtschaftliche Produkte. Besonders für Brasilien steht mit dem Abkommen viel auf dem Spiel. So hofft das Land auf steigende Agrarexporte in die EU, zum Beispiel bei Rindfleisch, Ethanol und Soja, die gleichermaßen Investitionen und Wirtschaftswachstum stimulieren sollen. Eine aktuelle Studie der London School of Economics bekräftigt diese Aussicht und prognostiziert insbesondere einen Anstieg bei brasilianischen Rindfleischausfuhren in die EU.

Kritik an Brasiliens Umweltpolitik

Die Ratifizierung des Abkommens droht jedoch mittlerweile zu einer Hängepartie zu werden. Stein des Anstoßes ist dabei nicht zuletzt die Rolle Brasiliens, die eine wachsende öffentliche Ablehnung des Handelsabkommens hervorruft. So gehen die brasilianischen Exportambitionen für Kritiker des Abkommens auf klaren Konfrontationskurs mit den im Pariser Klimaabkommen zugesagten Umwelt- und Klimaschutzzielen des Landes. Verstärkt wird dieser Eindruck durch die zahnlose Umweltpolitik des amtierenden brasilianischen Präsidenten Jair Bolsonaro. Vielmehr legitimiert dieser sogar ausdrücklich die Ausbeutung der natürlichen Ressourcen des Landes durch umweltpolitische Deregulierung. So wurde in seiner Amtszeit unter anderem die (Brand-)Rodung von Regenwaldflächen zur landwirtschaftlichen Nutzbarmachung erlaubt. Eine Strategie, die in vielerlei Hinsicht wenig nachhaltig erscheint.

Dr. Frederik Stender

Viele Abkommensgegner sehen sich durch die verheerenden Amazonasbrände in diesem Sommer in ihrer Kritik bestätigt. Prominente Unterstützung erhielten sie dabei durch den französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron. Sowohl die EU als auch die Mercosur-Staaten versichern im neuen Handelsabkommen, die Richtlinien des Pariser Klimaabkommens einhalten zu wollen. Jedoch haben neben Frankreich bereits Irland, Luxemburg und Österreich ebenfalls angekündigt, der Ratifizierung des Abkommens im Europäischen Rat nicht zuzustimmen. Sie fordern, dass ein einklagbarer Sanktionierungsmechanismus für den Fall des Bruchs mit Umwelt- und Klimaschutzzielen in das Vertragswerk aufgenommen wird. Dementgegen sehen Befürworter das Abkommen als eine (vielleicht letzte) wirksame Möglichkeit, Brasilien überhaupt an das Pariser Klimaabkommen zu binden. So strebt die Bolsonaro-Regierung bereits ein Freihandelsabkommen mit den USA an, bei dem unter der Präsidentschaft von Donald Trump mehr als fraglich sein dürfte, ob Umwelt- und Klimaschutzaspekte Berücksichtigung finden werden.

Die Kehrseite des Abkommens

Jedoch greift die Darstellung Brasiliens als einseitigen Profiteurs des Handelsabkommens zu kurz. Im Gegenteil wirft Brasiliens Enthusiasmus für Agrarexporte – neben berechtigter Bedenken zur Nachhaltigkeit der Landnutzung – auch Fragen in Hinblick auf Brasiliens langfristige Industrialisierungsstrategie auf. Der Preis für den EU-Marktzugang könnte sich für das Schwellenland langfristig gar als zu hoch herausstellen. Brasilien würde dann in zweifacher Hinsicht den Kürzeren ziehen.

Denn während europäische Umweltaktivisten und Landwirtschaftsverbände eine Flut von brasilianischen Agrarprodukten fürchten, droht dem Mercosur umgekehrt die Schwemme wettbewerbsfähigerer europäischer Industrieprodukte. Chancen und Risiken sind dabei unter den vier südamerikanischen Mitgliedern sehr ungleich verteilt. So dürften Argentinien, Paraguay und Uruguay tendenziell von niedrigeren Preisen und Technologie-Know-how profitieren. Für Brasilien ändern sich die Spielregeln allerdings erheblich. Lange Zeit überschüttete das Land seine kleineren Nachbarn nämlich selbst mit einem Produktsortiment von Bier und Kleidung bis hin zu Autos: Kaum ein Supermarktregal in Argentinien oder Uruguay, in dem Waren mit der Herkunftsbezeichnung „industria brasilera“ fehlen, und kaum ein Straßenbild in Asunción ohne VW Gol aus brasilianischer Produktion.

So belegen empirische Forschungsergebnisse, dass Brasiliens Exporte in die übrigen Mercosur-Länder hauptsächlich Güter betreffen, die global nicht wettbewerbsfähig sind. Anders ausgedrückt: Brasilien nutzt den Inner-Mercosur-Handel für den Ausbau seiner heimischen Industrie. Dabei reichen die Gründe für Brasiliens regionale Vormachtstellung in die Zeit vor dem Mercosur zurück. Wie nahezu alle lateinamerikanischen Länder setzte das Land in den 1970er- und 1980er-Jahren auf eine importsubstituierende Industrialisierung, den Versuch, die inländische Produktion durch die Erhebung von Handelsbarrieren zu fördern. Aufgrund von Größenvorteilen gestaltete sich diese Handelspolitik in Brasilien als vergleichsweise erfolgreich. Innerhalb des Mercosur-Bündnisses kann Brasilien entsprechend bereits etablierte Industriestrukturen aufweisen.

Konnte Brasilien bisher seinen regionalen Wettbewerbsvorteil im durch Außenzölle geschützten Mercosur-Binnenmarkt für eine effektive Industriepolitik ausnutzen, hebt das EU-Mercosur-Abkommen diese künstliche Schutzzone nun auf. Dass die brasilianische Industrie dem europäischen Wettbewerbsdruck mehrheitlich gewachsen ist, gilt als unwahrscheinlich. Fänden brasilianische Industrieprodukte keinen ausreichenden Absatz mehr, drohte ein schmerzvoller Abbau von Produktionskapazitäten. Zwar unterstrich der brasilianische Außenhandelssekretär Lucas Ferraz nach Verkündung des Abkommens die damit einhergehenden Möglichkeiten zur Einbindung der brasilianischen Industrie in globale Wertschöpfungsketten. Allerdings könnten europäische multinationale Unternehmen (wie beispielsweise Volkswagen) im Gegenzug zukünftig eher weniger Anreize haben, Werke für die Vor-Ort-Produktion in Brasilien zu errichten. Das neue Abkommen ermöglicht ihnen, den gesamten Mercosur-Markt selbst zollfrei zu beliefern. Langfristig könnte Brasilien also mit dem EU-Mercosur-Abkommen neben seinen natürlichen Ressourcen auch seinen Industrialisierungsgrad riskieren. Überspitzt formuliert droht im schlimmsten Fall die Rückentwicklung zu einem reinen Agrarstaat ohne Regenwald.


Über den Autor:

Dr. Frederik Stenderist Ökonom und arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Institut für Entwicklungspolitik (DIE). Sein Forschungsschwerpunkt liegt im Bereich Handelspolitik.

Zitierte Studien:

  • London School of Economics (2019). Sustainability Impact Assessment in Support of the Association Agreement Negotiations between the European Union and Mercosur. Draft Interim Report.
  • Moncarz, Pedro, Marcelo Olarreaga & Marcel Vaillant (2016). Regionalism as Industrial Policy: Evidence from MERCOSUR. Review of Development Economics, 20(1): 359-373.