Politics & Standpoints„Jede Regierung muss die Grundrechte achten“

Die EU ist stolz auf ihre rechtlichen Grundlagen der Menschenrechte in der gesamten Union und setzt sich in ihrer Außenpolitik nachdrücklich für sie ein. Doch wie steht es tatsächlich um die Menschenrechte in der EU und wer stellt sie sicher? Um diese Fragen zu beantworten, sprach das Diplomatische Magazin mit Michael O'Flaherty, dem Direktor der EU-Agentur für Grundrechte, die 2007 von der EU beauftragt wurde, Daten über Menschenrechtsverletzungen zu sammeln und für Grundrechte zu sensibilisieren.


DM: Gute Regierungen zeichnen sich dadurch aus, dass sie sich um die Menschenrechte ihrer Bürger kümmern. Sind die Menschenrechte in Europa bedroht?
Michael O’Flaherty: Die europäischen Länder sollten sehr stolz auf ihre Errungenschaften im Bereich der Menschenrechte seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs sein. Es gibt jedoch keinen Grund zur Selbstzufriedenheit. Die Menschenrechte werden an viel zu vielen Orten verletzt und sind gefährdet. In der Covid-Pandemie ist es zu einer besorgniserregenden Eskalation gekommen. Während beispielsweise viele Einschränkungen von Rechten im vergangenen Jahr völlig angemessen waren, haben in einigen Ländern nationale und lokale Regierungen ihre Rolle missbraucht und ein breites Spektrum von Menschen- und Grundrechten unnötig eingeschränkt. Wir sind auch besorgt darüber, dass zivilgesellschaftliche Organisationen in der gesamten EU darüber berichten, dass sie bei ihrer Arbeit unter Druck geraten.


DM: Welche Instrumente – abgesehen von moralischer Verurteilung - stehen der Agentur für Grundrechte (FRA) zur Verfügung, um fehlende Menschenrechte einzufordern?
Michael O’Flaherty: Die Agentur für Grundrechte verfügt über einen umfangreichen Werkzeugkasten. Am bekanntesten sind ihre EU-weiten Erhebungen über schutzbedürftige Gruppen, darunter seit kurzem auch über die Roma- und LGBTI-Gemeinschaften. Die Erhebungsdaten sind eine wichtige Ressource für politische Entscheidungsträger auf EU- und Mitgliedstaatsebene.

Ein weiteres wichtiges Instrument ist die Fähigkeit der Agentur, die menschenrechtsbezogenen Praktiken in der EU genau zu beobachten. Dazu gehören zum Beispiel die Praktiken im Zusammenhang mit Covid und die Reaktionen darauf, über die in unseren regelmäßigen öffentlichen Bulletins berichtet wird. Unter anderem hat die Agentur auch ein Programm zum Aufbau von Kapazitäten vor Ort. Ein Beispiel dafür ist unsere Arbeit zur Unterstützung der Menschen- und Grundrechte von Migranten an den EU-Außengrenzen und anderswo.


DM: Am 11. und 12. Oktober 2021 findet in Wien das Grundrechteforum als Europas führende Menschenrechtsveranstaltung statt. Einer der meistdiskutierten Aspekte ist die Frage, wie die Rechte im digitalen Zeitalter geschützt werden können. Welche Maßnahmen sollten digitale Plattformen sofort umsetzen, um die digitalen Rechte ihrer Nutzer zu gewährleisten?
Michael O’Flaherty: Der Schutz der Menschenrechte im digitalen Zeitalter ist in der Tat eines der Hauptthemen des Grundrechteforums 2021.

Von den Auswirkungen der künstlichen Intelligenz auf die Rechte der Menschen bis hin zur Bekämpfung von Hassreden im Internet wird das Forum nach Möglichkeiten suchen, die Herausforderungen im Zusammenhang mit den Menschenrechten im digitalen Zeitalter direkt anzugehen.

Die Frage der digitalen Plattformen ist besonders relevant, da Plattformen, wie z. B. große soziale Medienunternehmen, in viele Grundrechte eingreifen können, nicht nur in die Privatsphäre und den Datenschutz. Sie können sich unter anderem auch auf die Würde der Menschen, die Gleichheit und Nichtdiskriminierung oder die Gedankenfreiheit auswirken. Aufgrund ihrer weitreichenden Auswirkungen ist es von entscheidender Bedeutung, mehr Informationen darüber zu erhalten, wie sie tatsächlich funktionieren, um die damit verbundenen gesellschaftlichen und grundrechtlichen Risiken besser verstehen und bewerten zu können.

Im Vorschlag für den EU-Rechtsakt über digitale Dienste wird die Notwendigkeit größerer Transparenz betont. Dies ist notwendig, um die Risiken, die Plattformen für unsere Rechte darstellen, richtig einzuschätzen und ein System für eine wirksame und unabhängige Aufsicht einzurichten. Auch müssen mehr Informationen für Forscher und Forscherinnen zur Verfügung stehen, damit sie im öffentlichen Interesse forschen können.


DM: Zum Thema gute Regierungsführung: Welche Themen sollte die neue Regierung in Deutschland nicht vernachlässigen? Worauf sollte sie ihr Augenmerk richten?
Michael O’Flaherty: Jede Regierung, nicht nur eine neu gewählte, muss die Grundrechte der Menschen achten. Wenn wir über Themen sprechen, die Regierungen nicht vernachlässigen sollten, ergeben sich in ganz Europa ähnliche Muster.

Das erste sind die Auswirkungen der Coronavirus-Pandemie auf unsere Rechte. Unsere Rechte sind während der Pandemie stark eingeschränkt worden, aber diese Einschränkungen dürfen nicht zur Norm werden. Sie können nur so lange bestehen, wie sie notwendig sind, um ihre Ziele zu erreichen.

In ganz Europa muss mehr getan werden, um die zunehmende Intoleranz in unseren Gesellschaften zu bekämpfen. Wir müssen aufstehen und Rassismus und Diskriminierung die rote Karte zeigen. Eine weitere wichtige Frage ist, wie wir sicherstellen können, dass unsere Rechte im digitalen Zeitalter geachtet werden, insbesondere mit dem Aufkommen von künstlicher Intelligenz und digitalen Plattformen. Auch das Thema Migration bedarf der dringenden Aufmerksamkeit der europäischen wie auch der nationalen politischen Entscheidungsträger.

All diese Themen werden wir auf dem Grundrechteforum 2021 am 11. und 12. Oktober in Wien und online diskutieren.


Interview: Marie Kepler