Hauptstadt Berlins Verkehrssenatorin Günther unterstützt den Verzicht aufs eigene Auto

DM: Sicher, klimafreundlich und komfortabel soll die Mobilität künftig in Berlin sein. Mit welchen Mitteln und Maßnahmen wollen Sie dieses Ziel erreichen, Frau Senatorin?

Senatorin Regine Günther: Um den Mobilitätsmix in Deutschlands größter Stadt nachhaltig zu verändern, braucht man vor allem ein Mittel: einen langen Atem. Denn es geht hier um Infrastruktur, um den langfristigen Umbau einer über etliche Jahrzehnte insbesondere auf den Autoverkehr ausgerichteten Stadt. Dieses Modell kommt in vielerlei Hinsicht an seine Grenzen: Die Menschen stehen mit ihren Fahrzeugen mehr als sie fahren, die Luft ist schmutzig, es ist laut, die Stadtfläche ist unwirtlich, weil betoniert – und gefährlich ist es auch. Wir wollen den vorhandenen Platz daher neu verteilen, auch indem wir die Verkehrsmittel stärken, die eine Stadt lebenswerter machen. Das ist der Kern des Berliner Mobilitätsgesetzes, das es so nirgendwo anders in Deutschland gibt: Es legt den Vorrang des Umweltverbundes aus ÖPNV, Rad- und Fußverkehr für alle Planungen fest – ein fundamentaler Paradigmenwechsel.

„Wir bauen Schritt für Schritt eine sicherere Stadt mit einer neuen Mobilität“

Den langen Atem dafür brauchen wir erstens, weil vor jedem Umbau einer Straße, einer Brücke, eines Platzes oder eines ganzen Kiezes sorgfältige Planung, Beteiligung und Abwägung nötig ist. Und zweitens, weil es darum geht, Gewohnheiten des Alltags zu verändern – zugunsten der Bedürfnisse von Kindern, von Älteren, Mobilitätseingeschränkten und gerade auch ärmeren Bevölkerungsschichten, die sich kein Auto leisten können, aber an lauten Hauptstraßen mit hoher Luftverschmutzung leben. Unser Weg hin zu einer mobilen Stadt für alle besteht daher in einem beispiellosen Ausbau des ÖPNV, für den wir 40 Prozent mehr Straßenbahnstrecken, die Erneuerung und den Ausbau der Fuhrparks bei U- und S-Bahn, die komplette Umstellung auf E-Busse, dichtere Takte und – gemeinsam mit Brandenburg und der Bahn – auch entscheidende Verbesserungen für die Pendlerverbindungen auf der Schiene vorantreiben.
Zudem bauen wir Berlins lange vernachlässigte Radinfrastruktur mit geschützten Radfahrstreifen, Radschnellwegen, Fahrradstraßen, Grünmarkierungen, neuen Abstellanlagen und Fahrradparkhäusern aus. Und nicht zuletzt verbessern wir die Bedingungen für Zufußgehende mit attraktiveren, direkten Wegbeziehungen, optimierten Ampelschaltungen, mit mehr autofreien Straßen und Kiezen und mit neuen Spielstraßen für Kinder. Wir bauen Schritt für Schritt eine sicherere Stadt mit einer neuen Mobilität. Bei uns steht der Mensch im Zentrum aller Planungen.

Im September sorgten während der Corona-Krise errichtete Pop-up-Radwege für Schlagzeilen. Wie werden temporäre Radwege zu nachhaltiger Infrastruktur?

Radfahrstreifen rasch mit provisorischen Mitteln einzurichten, also erst einmal Warnbaken und gelbe Spurmarkierungen zu nutzen, war ein wichtiger Schritt in der Pandemie. Es ging darum, dem wachsenden Radverkehr schnell sichere Wege an Hauptstraßen zu bieten. Oft gibt es für diese Strecken bereits Planungen, um aus dem Provisorium einen dauerhaften Radfahrstreifen zu machen, also mit dauerhafter Markierung und, wo nötig, besonders geschützt. Dies soll möglichst auf allen „Pop-Up-Radfahrstreifen“ geschehen, und zwar schnell. Sie sind gekommen, um zu bleiben. Die jüngsten Entscheidungen der Gerichte legen nahe, dass dieser Plan Wirklichkeit werden kann.

Mehr Parks, Grünflächen sowie Sport- und Spielflächen sollen für gesunde urbane Erholungsräume in Berlin sorgen. Welche konkreten Pläne gibt es hier für die Hauptstadt?

Berlin ist jetzt schon eine besonders grüne Metropole – mit vielen Park- und Waldflächen, Natur- und Landschaftsschutzgebieten, mit Kleingärten, mit Alleen, Brachen und etlichen, höchst kreativen Urban-Gardening-Initiativen. Doch die wachsende Stadt mit ihrem steigenden Bedarf an Wohnraum und Infrastruktur sorgt für starke Flächenkonkurrenz. Und der rapide Klimawandel stellt uns ultimativ vor die Herausforderung, die Stadt mit mehr Grün- und Versickerungsflächen angesichts von Klimawandelfolgen wie großer Hitze, langen Trockenperioden und sehr starkem Regen robust aufzustellen. Es gilt also, das vorhandene Grün zu bewahren, besser noch: auszuweiten – und überall dort, wo es möglich ist, Böden wieder zu entsiegeln, Renaturierungen anzulegen, Dächer zu begrünen und grüne Oasen zu schaffen. Dafür haben wir die Bezirksämter mit deutlich mehr Ressourcen für die Pflege des Stadtgrüns ausgestattet. Dafür haben wir einen Kleingartenentwicklungsplan aufgestellt, der die wertvollen Parzellen auf Landesflächen schützt. Und dafür haben wir gemeinsam mit der Stadtgesellschaft eine anspruchsvolle Charta für das Berliner Stadtgrün entwickelt, die einen breiten Konsens zur Stärkung des urbanen Grüns formuliert und ein konkretes Handlungsprogramm aufsetzt. Vor Kurzem erst konnten wir etwa die Erweiterung des Mauerparks feiern, der jetzt doppelt so groß ist wie bisher – und der gleichzeitig in seinem Untergrund eines der größten neuen Abwasser-Speicherbecken Berlins birgt, um Überläufe durch Starkregen aufzufangen, damit sie nicht in die Berliner Flüsse gelangen. Das ist klimaresiliente Infrastruktur in einer grünen Metropole.

Der Hauptstadtflughafen BER steht kurz vor der Eröffnung. Die Geschichten über diverse Pannen des Bauprojekts sind oft erzählt worden. Was aber hat der neue Flughafen in Sachen digitaler und Verkehrsinfrastruktur überhaupt zu bieten?

Die Corona-Krise hat den Flugverkehr insgesamt vor eine vollkommen neue Situation mit unklarer Perspektive gestellt. Auch der rasante Klimawandel drängt zu Entscheidungen, welche Strecken künftig sinnvoll sind und welche nicht. Unabhängig von der Rolle des BER in dieser Situation kann Berlin froh sein, den Anschluss des Hauptstadtflughafens an die Metropole in erster Linie mit leistungsfähigen öffentlichen Verkehrsmitteln sichergestellt zu haben. Die S-Bahn fährt ihr neues Ziel bereits einige Tage zuvor an.

„Das ist klimaresiliente Infrastruktur in einer grünen Metropole“

Der sechsgleisige Flughafenbahnhof befindet sich direkt unter dem Mittelterminal, wodurch sich kürzeste Wege zu den Bahnsteigen des Regionalverkehrs samt dem Airport-Express, aber auch zur S-Bahn und zu den Fernzügen ergeben. Die bestehenden Regionalverkehrslinien RE 7 und RB 14 werden mit Inbetriebnahme des BER durch den Flughafen-Express RE 9 ergänzt, sodass sich zwischen dem Berliner Hauptbahnhof und dem Flughafen Berlin Brandenburg etwa ein 15-Minuten-Takt mit einer Fahrzeit von rund 30 Minuten ergibt. Inwieweit ein zusätzlicher Anschluss des BER an die Berliner U-Bahn sinnvoll sein kann, untersucht die Senatsverwaltung für Umwelt, Verkehr und Klimaschutz gerade.

Berlin und Brandenburg wachsen immer stärker zusammen. Vor diesem Hintergrund steht auch das gemeinsame Projekt „i2030“. Worum geht es genau?

Das Großprojekt i2030, begonnen in dieser Wahlperiode, treibt den Ausbau der Schienenverbindungen für Pendlerinnen und Pendler in der Metropolregion voran. Ziel ist ein so attraktives Angebot, dass immer mehr Menschen auf ihr Auto verzichten und auf den Umweltverbund umsteigen können. Dafür hat die Senatsverwaltung für Umwelt, Verkehr und Klimaschutz gemeinsam mit Brandenburg, dem Verkehrsverbund Berlin-Brandenburg und der Deutschen Bahn umfangreiche Pläne verabredet: Bis zu 6 Milliarden Euro sollen investiert werden, um die Pendlerinnen und Pendler – bis 2030 wird ein Anstieg von jetzt 300.000 auf rund 380.000 erwartet – zuverlässig, klimafreundlich und komfortabel von Brandenburg nach Berlin und umgekehrt zu bringen. Dafür wird auf acht sternförmig in und um die Hauptstadt gelegenen Korridoren die Schieneninfrastruktur für den S-Bahn- und den Regionalverkehr ausgebaut. Bis zu 180 Kilometer neue oder reaktivierte Strecken gehören dazu, Lückenschlüsse, Abstellanlagen für Züge, verlängerte Bahnsteige, insgesamt bis zu 99 um- oder neugebaute Bahnhöfe. Beispiele sind die Projekte Potsdamer Stammbahn, die Heidekrautbahn oder der Ausbau der stark nachgefragten Westverbindung zwischen Spandau und Nauen. Das Projekt i2030 rückt Berlin und Brandenburg also deutlich näher zusammen – es wird höchste Zeit dafür im vierten Jahrzehnt nach dem Mauerfall.

Frau Senatorin, vielen Dank für Ihre Zeit.

INTERVIEW Enrico Blasnik