Energie im Oktober Mehr Licht

„Nord Stream 2 ist in einem sehr langen Prozess von allen zuständigen Stellen innerhalb Deutschlands und der EU geprüft worden. Das furchtbare Unrecht, das Herrn Nawalny zugefügt wurde, sollte uns nicht dazu verleiten, als Reaktion darauf nun eigenes EU-Recht zu beugen. Recht muss Recht bleiben“, sagt zum Beispiel Oliver Hermes, Vorsitzender des Ost-Ausschuss der Deutschen Wirtschaft. Demgegenüber stehen Stimmen wie die von Prof. Dr. Claudia Kemfert, Energieökonomin am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung, die sagen, dass das umstrittene Projekt ohnehin „energiewirtschaftlich unnötig, klimapolitisch schädlich und unrentabel“ sei.
Die Bundesregierung hat auch die Organisation für das Verbot Chemischer Waffen (OVCW) für die Aufklärung des Falls mit einbezogen. Welche Konsequenzen oder wirtschaftlichen Sanktionen Deutschland und Europa allerdings aus dem Fall Nawalny letztlich ziehen werden, bleibt abzuwarten.

Fest steht jedenfalls, dass es in puncto Energieversorgung in der Europäischen Union keine wirkliche Einigkeit gibt. Während Deutschland in den letzten Jahrzehnten mit der Abkehr von Atomenergie und Kohleverstromung mutige, entschlossene und ökologisch vernünftige Entscheidungen getroffen hat, setzen andere europäische Länder weiterhin auf fossile Energieträger. Der meiste Strom aus Frankreich zum Beispiel wird von Kernkraftwerken erzeugt. Sicherlich, die Atomenergie ist augenscheinlich relativ CO2-neutral, aber die Nuklearkatastrophe in Fukushima 2011 und die noch immer und vermutlich nie zu lösende Endlagerfrage sollte die Obsoleszenz der einst vielversprechenden Technik vor Augen geführt haben: Kernenergie kann nicht die Zukunft sein. Deutschlands Nachbar Polen wiederum erlebt derzeit einen Kohle-Boom. Neue Kohlekraftwerke sind bereits im Bau oder in Planung. Es hängen viele Arbeitsplätze an der Branche, die nebenbei auch die polnische Unabhängigkeit von russischen Importen symbolisiert.

I see trees of green ...

Green Deal auf dem Reißbrett

Obwohl sich die EU-Mitgliedstaaten also nicht ganz einig sind, gibt es jedoch den sogenannten Europäischen Green Deal, der im Dezember 2019 von der Europäischen Kommission unter Leitung ihrer Präsidentin Ursula von der Leyen vorgestellt wurde. Ein Maßnahmenpaket, das die Nettoemissionen von klimaschädlichen Treibhausgasen bis zum Jahre 2050 auf Null reduzieren soll – zumindest auf dem Reißbrett. Unter anderem sollen die vorhandenen Energiesysteme integriert werden, und eine Wasserstoffstrategie soll die Abhängigkeit der EU von Energieimporten drastisch reduzieren – auch die von Russland und den USA, die US-Fracking-Gas sehr gerne in die EU importieren wollen und deutsche Unternehmen, die am Bau der Gaspipeline Nord Steam 2 beteiligt sind, bereits abgestraft haben oder mit Sanktionen drohen.

Aber auch auf anderen Teilen des Globus‘ tauchen komplizierte Streitigkeiten über Energiequellen auf. Der Konflikt am Nil: Sudan, Ägypten, Äthiopien haben unterschiedliche Vorstellungen und Ansprüche von der Nutzung des längsten Flusses der Welt. Die Regierungen in Griechenland und Zypern werfen der Türkei vor, in ihren Gewässern illegal nach Gasreservaten zu suchen. Und dann existieren noch die weltweiten Konflikte um die Förderung Seltener Erden, die für die Herstellung von Elektrogeräten gebraucht werden, um nur einige zu nennen. Zur zukünftigen Minderung solcher Konflikte stünden die erneuerbaren Energien seit Längerem bereit. Für sehr viele Jahre von der Industrie belächelt, hat die Corona-Pandemie den regenerativen Energien neuen Anschub verliehen. So steigen bereits die weltweiten Investitionen in erneuerbare Energien, ihre Technologien zur Effizienzsteigerung, synthetische Kraftstoffe und Capture- und Storage-Lösungen.

Angesichts der Energieabhängigkeiten, der Auswirkungen eines ungebremsten Klimawandels und global verflochtenen Volkswirtschaften wuchsen nunmehr die Erwartungen auf die deutsche EU-Ratspräsidentschaft im zweiten Halbjahr von 2020. Das Pariser Klimaabkommen sah ursprünglich vor, dass sich Deutschland und die anderen Unterzeichnerstaaten noch in diesem Jahr zu ambitionierteren Klimazielen verpflichten. Doch die Covid19-Pandemie lässt die Klimaschutzpolitik der EU in der Wichtigkeit nach hinten rutschen. Hinzu gesellen sich die Streitigkeiten mit Großbritannien um den Brexit-Vertrag und die Situation von verzweifelten Flüchtlingen in den Elendslagern in Griechenland. Den gesamten Umfang der Pläne für seine EU-Ratspräsidentschaft konnte Deutschland nicht wie geplant auf die Agenda setzen. Doch ungeachtet dessen stellt sich die Frage: Wie viel Streitkultur und Problemverschiebung verträgt so ein existenziell bedrohliches Thema wie die Klimakrise eigentlich? Rhetorisch haben wir uns vielerorts für die Ausbauziele der erneuerbaren Energien gewappnet, her mit der Energiewende! Deutschlands UN-Botschafter Christoph Heusgen etwa hat den Klimawandel als das zentrale Problem und Sicherheitsrisiko für die Welt bezeichnet. Das Europäische Parlament hat den Klima- und Umweltnotstand ausgerufen. Und auch Entwicklungsminister Müller sagt, dass der Klimaschutz die Überlebensfrage der Menschheit ist.  

„Europa steht in der historischen Verantwortung zu handeln“

„Wir müssen die anhaltende Ausbeutung und Zerstörung unserer lebenserhaltenden Systeme beenden und eine vollständig dekarbonisierte Wirtschaft gestalten, in deren Mittelpunkt das Wohlergehen aller Menschen und der natürlichen Umwelt, aber auch der Schutz von Demokratie stehen“, sagt die unnachgiebige Bewegung Fridays For Future. Damit meint sie den sofortigen Stopp von Investitionen in fossile Energieträger. Das brachten die Aktiven von FFF, Neubauer, de Wever, Charliér und Thunberg, auch gegenüber Bundeskanzlerin Merkel zum Ausdruck. Die CDU-Politikerin war im Kabinett von Altkanzler Kohl bereits Bundesministerin für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit. Sie hat miterlebt, wie die rot-grüne Koalition 2001 die Energiewende auf den Weg gebracht hat, und entschied die Abkehr von der Nuklearenergie in Deutschland. Und nächstes Jahr zum Abschied von der politischen Bühne?

Als mögliche Vorschau könnte der Referentenentwurf des Bundeswirtschaftsministeriums zur EEG-Novelle dienen: Dort heißt es, dass der Ausbau des Ökostroms schneller vorangehen soll. Der Entwurf sieht außerdem vor, dass bis 2030 65 Prozent des Stroms in Deutschland aus erneuerbaren Energien kommen soll. Ohne die Industrie, ohne CO2-freien technischen Fortschritt wird es auch keinen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Umbau geben. Globale Unternehmen, der Mittelstand und Start-ups sind bedeutende Innovations- und Konjunkturtreiber im Bereich der erneuerbaren Energien.

Energiepotenziale überall

Globale Probleme erfordern multilaterale Kooperationen: Um die Weichen Richtung Klimaneutralität bis spätestens 2050 zu stellen, müssen alle Energien gebündelt werden – nicht nur in Europa. Das bedeutet in erster Linie internationale Zusammenarbeit und voneinander zu lernen; das gilt es zu organisieren. In allen Ländern dieser Erde schlummern immense Potenziale der regenerativen Energien. Chile und Algerien beispielsweise nutzen die zahlreichen Sonnenstunden in ihren Wüsten für die Erzeugung von Solarenergie. Indonesien ist aufgrund seiner vielen Vulkane im Besitz von ungefähr 40 Prozent des weltweiten Potenzials für geothermische Energie. In Chinas Drei-Schluchten-Talsperre gibt es das größte Wasserkraftwerk der Erde mit einer Generatorleistung von 22,5 Gigawatt. Israel ist weltweit bekannt für seine smarten Bewässerungssysteme. Kurzum, für einen effizienten Umweltschutz und eine globale Energiewende braucht es die Förderung aller natürlichen regenerativen Ressourcen und ihrer Technologien.

Unsere Welt wird eine andere sein als vor Corona. Wir sollten die Corona-Pandemie wie einen heftigen Stromschlag empfinden und gewarnt sein. Sonst geht irgendwann buchstäblich das Licht aus. Deutschland kann in der ökologischen Transformation als Wirtschaftsmacht vorausgehen, die Kreislaufwirtschaft, nachhaltige Lieferketten, Energieeffizienz und erneuerbare Energien stärken, Wirtschaftsbeziehungen ökologisch regulieren, Verantwortung zeigen sowie entschlossenes und schnelles Handeln mit viel Forschung und Entwicklung an den Tag legen. „Exportweltmeister grüner Technologien!“, „Deutschland erlebt sein Nachhaltigkeitswunder!“, „Das Wunder aus Berlin!“ – das wären tolle fabulierte Schlagzeilen. An dem gemeinschaftlichen Vermächtnis teilzuhaben, Europa und der Welt eine nachhaltige Zukunft zu hinterlassen, als krassen Kontrast zur gnadenlosen Verwüstung und Zerstörung im Zweiten Weltkrieg, wäre das nicht die historische Schlussfolgerung?

TEXT Enrico Blasnik