Interview„Eine zentrale Ausdrucksform des Menschen“

Prof. Dr. Claudia Meyer leitet den Studiengang Elementare Musikpädagogik und ist Vorsitzende des Kölner Instituts für musikpädagogische Forschung an der Hochschule für Musik und Tanz Köln. In Forschung und Lehre beschäftigt sie sich mit dem musikalischen Lernen in voraussetzungsoffenen Gruppen, mit Ästhetischer Bildung, Diversität, Menschenund Kindheitsbildern sowie Performativen Künsten. Im Interview mit dem Diplomatischen Magazin spricht sie über die Bedeutung der Musik für Kinder und Jugendliche.


DM: Frau Prof. Meyer, inwiefern hat das aktive Musizieren von Kindern und Jugendlichen einen Effekt auf deren soziales, emotionales oder intellektuelles Leben?
Prof. Dr. Claudia Meyer: Das aktive Musizieren kann die persönliche Entwicklung auf allen genannten Ebenen positiv beeinflussen. Bereits das Hören von Musik ruft unterschiedliche Emotionen hervor, was unter anderem in der Filmmusik oder im Neuromarketing bewusst genutzt wird.
Sowohl Musikhören als auch aktives Musizieren regen die Neuroplastizität des Gehirns an. Durch das beidhändige Spiel eines Instruments über einen längeren Zeitraum entwickeln sich beispielsweise größere Bewegungszentren in der motorischen Großhirnrinde als bei nicht musizierenden Menschen. Allerdings entscheiden sich Menschen in der Regel nicht zum aktiven Musizieren, um ihre Großhirnrinde zu aktivieren, sondern weil Musik eine zentrale Ausdrucksform von Menschen ist. Zu allen Zeiten und in allen Regionen der Welt haben Menschen Musik gewählt, um Emotionen auszulösen, zu verstärken oder abzuschwächen. Sie haben die Kraft der Musik in der Gemeinschaft erlebt und die Tiefe von Musik als Teil des Menschseins. Das beinhaltet emotionale, soziale und intellektuelle Aspekte, die aber komplex und individuell verschieden sind.


DM: Gibt es hierzu Studien?
Prof. Dr. Claudia Meyer: Es gibt immer wieder Studien, die Transfereffekte von Musik untersuchen. So werden dem Musizieren positive Effekte in den Bereichen Sprachentwicklung, räumliches Denken, Sozialkompetenzen und andere Wirkungen testiert. Ein prominentes Beispiel ist der sogenannte „Mozart-Effekt“, der in den 1990er Jahren mediale Aufmerksamkeit erhielt. In einem Intelligenztest schnitten die Teilnehmenden einer Studie besser ab, wenn sie vorher 10 Minuten aus einem Klavierkonzert von Mozart gehört hatten. Aus dieser Korrelation wurde die Kausalität abgeleitet, dass das Hören der Musik von Mozart die Intelligenz steigert. Das führte unter anderem dazu, dass jedes neugeborene Kind in Georgia und Tennessee eine Mozart-CD erhielt. Folgestudien zeigten, dass auch ein Song der britischen Band Blur zu vergleichbaren Ergebnissen führte, der „Mozart-Mythos“ also widerlegt wurde. Auch bei anderen genannten Effekten haben Anschlussstudien die Ergebnisse relativiert.
So sehr ich nachvollziehen kann, dass Bildungsverantwortliche ihre Entscheidungen auf der Grundlage von Studien treffen möchten, so problematisch finde ich, dass die Legimitation von Musik gegenwärtig überwiegend mit dem Zugewinn außermusikalischer Kompetenzen verknüpft wird. Für mich stellt sich bildungspolitisch vielmehr die Frage, welche anthropologischen Dimensionen wir in den Blick nehmen müssen, um einem normativen verengten Blick auf Menschen entgegenzuwirken.


DM: Welche Konsequenzen hätte das für unsere Schulen?
Prof. Dr. Claudia Meyer: Musik gehört zum Menschsein. Die musikalische Aktivität Jugendlicher in Deutschland hängt aber laut der im Jahr 2017 herausgegebenen Studie Jugend und Musik stark von der Bildung und dem Einkommen des Elternhauses ab. Somit haben Schulen den Auftrag im Sinne der Bildungsgerechtigkeit, dem Risiko entgegenzuwirken, in ökonomisch bedingten Verhältnissen kulturell bildungsarm aufzuwachsen. Schließlich unterstützt das aktive Musizieren das Bedürfnis nach Ein- und Ausdruck. Die eigenen musikalischen Ressourcen zu entdecken und zu entwickeln, kann nicht nur identitätsbildend und -stärkend wirken, sondern auch Resilienz fördern und letztlich zu einem glücklichen Leben beitragen.

 

Interview Marie Wildermann
 

Prof. Dr. Claudia Meyer ist Leiterin des Studiengangs Elementare Musikpädagogik und Vorsitzende des Kölner Instituts für musikpädagogische Forschung an der Hochschule für Musik und Tanz Köln. Ihr künstlerisches Hauptfach ist die Gitarre.