Politics & StandpointsDigitale Nachhilfe made in Estland

Estland ist eines der fortschrittlichsten Länder im Bereich E-Government. Auch bei der Digitalisierung im Bildungsbereich liegt das kleine baltische Land ganz weit vorn. Regelmäßig gehört Estland beim internationalen Leistungsvergleich PISA.zu den Besten in Europa. Was ist das Erfolgsgeheimnis des estnischen Bildungssystems? Darüber hat das Diplomatische Magazin mit dem estnischen Botschafter in Deutschland S.E. Alar Streimann gesprochen.


DM: Im Mai gab es eine PISA-Sonderstudie der OECD, in der es um den Vergleich der Lesefähigkeit 15-jähriger Schülerinnen und Schüler ging. Für Deutschland sind die Ergebnisse wenig schmeichelhaft: Je mehr digitale Nutzung in der Schule, umso weniger Lesekompetenz. Das scheint in Estland ganz anders. Dort befördert die Digitalisierung geradezu die Bildungskompetenz. Woran liegt es?
S.E. Alar Streimann: In der Tat haben sich estnische Schülerinnen und Schüler in den letzten PISA-Studien sehr gut qualifiziert, und zwar nicht nur im Lesen, sondern auch in Mathematik und Naturwissenschaften. Allerdings habe ich keinen Beweis zur Hand, wie viel das mit dem digitalen Unterricht an den Schulen zu tun haben könnte. Möglicherweise hat es sogar mit einigen recht alten und traditionellen Einstellungen zu tun. Seit dem 19. Jahrhundert und sogar bis in die Nachkriegszeit hinein war Estland hauptsächlich ein ländliches Land, und es war ein weit verbreitetes Verständnis unter den Bauern, dass es ihnen ein leichteres Leben als ihren Vätern garantieren würde, wenn sie ihre Kinder auf städtische Schulen schicken würden. Es wurde haufenweise estnische Literatur darüber geschrieben. Mir scheint, dass diese Einstellung immer noch da ist - dass eine gute Ausbildung ein Weg zum Erfolg ist. Das bedeutet auch, dass der Beruf des Lehrers in Estland sehr geachtet wird (wenn auch nicht so gut bezahlt). Ein weiterer Grund könnte sein, dass das estnische Schulsystem sehr egalitär ist - es gibt kaum Privatschulen. Alle, angefangen bei kleinen Gemeinden bis hin zur Hauptstadt Tallinn, sind in staatlicher Hand und erhalten die gleiche Unterstützung und Aufmerksamkeit. Der großflächige Einsatz von Computerklassen wurde Mitte der 90er Jahre im estnischen Schulsystem eingeführt. Die Generation, die damals zur Schule ging, ist jetzt in ihren 30ern - sie haben es nicht nötig, dass man ihnen den Umgang mit Computern beibringt. Vielleicht fällt es ihnen heute auch leichter, dieses Vertrauen an ihre Kinder weiterzugeben. Wir sollten auch nicht unterschätzen, dass für eine kleine Nation wie die Esten die Muttersprache das wichtigste Element der Identität ist - deshalb wird in der Schule viel Wert darauf gelegt, sie zu lehren. Und das bedeutet auch viel Lesen.

Auf der anderen Seite haben Sie Recht - das estnische Schulsystem nutzt digitale Lösungen recht ausgiebig, aber sie bleiben immer noch das Mittel, nicht das Ziel - sei es in der Schulverwaltung, in der Lehrer-Eltern-Kommunikation und auch, um den Unterricht interessanter, interaktiver und für die Lehrer einfacher zu gestalten usw. Diese guten PISA-Ergebnisse müssen also eine Kombination aus all dem sein.


DM: Sind die estnischen Schülerinnen und Schüler und Lehrkräfte besser durch die Pandemie gekommen als der Rest Europas, weil sie langjährige Erfahrungen mit der Digitalisierung des Bildungssystems haben?
S.E. Alar Streimann: Ich habe keinen Vergleich mit anderen Ländern, und leider ist die Pandemie noch nicht vorbei. Wir sollten also nicht mit Schlussfolgerungen vorschnell sein. Aber es scheint mir, ja, der Wechsel zum Heimunterricht oder zum Fernunterricht war in Estland technisch nie ein Problem. Wie gesagt, sowohl Lehrer als auch Schüler haben gute Computerkenntnisse. Allerdings war der Mangel an sozialer Kommunikation für die estnischen Schüler ein ebenso großes Problem wie für alle anderen. Schließlich sind wir alle daran gewöhnt, unser Wissen gemeinsam zu erwerben, in Gruppen, gemeinsam voranzukommen, unsere Fortschritte mit unseren Klassenkameraden zu vergleichen und auch von ihnen zu lernen, und nicht nur von den Lehrern. Mental war es also ein sehr schwieriges Jahr für die estnischen Schulkinder. Natürlich war es ebenso schwierig für die Lehrer - wie behält man 20 oder mehr Schüler gleichzeitig auf dem Bildschirm im Auge? Im Klassenzimmer ist die Situation mehr unter der Kontrolle der Lehrer. Aber ich habe auch einige sehr positive Rückmeldungen von estnischen Lehrern gelesen - wie sie sich angepasst haben und sich weiterentwickeln mussten. Übrigens wurde vor kurzem ein spezieller Cluster eingerichtet, der estnische digitale Lösungen im Bildungsbereich fördert und den ich sehr empfehle: www. edtechestonia.org Es gibt auch einen speziellen Botschafter im estnischen Außenministerium, der andere Regierungen, die von unseren digitalen Lernerfahrungen lernen wollen, berät und unterstützt.


DM: Für den Lehrerberuf braucht es viel Idealismus. Junge Menschen, die gut bezahlte Jobs anstreben, gehen eher in die IT-Branche. Welche Strategien hat Estland, um junge Menschen für den Lehrerberuf zu gewinnen?
S.E. Alar Streimann: Es ist interessant, dass es in Estland vor vielleicht zehn bis fünfzehn Jahren noch schwierig war. Aber es scheint, dass der Trend sich heute umkehrt - vielleicht kommen einfach immer mehr junge Leute aus den Universitäten, die nicht so einkommensorientiert sind, und mehr Idealisten sind! Offensichtlich können die Löhne in den Schulen nie mit den hochbezahlten Löhnen in der Privatwirtschaft mithalten, und vielleicht ist das der Grund, warum die meisten Lehrer in Estland Frauen sind. Der Lehrerjob in Estland war nie ein hochbezahlter, aber in Kombination mit den fast dreimonatigen Sommerferien und der jungen Aufbruchstimmung, die einen umgibt, hat er seine eigene Anziehungskraft.
 

DM: Digitale Bildung ist in Estland nicht nur auf Schule und Ausbildung beschränkt, er ist Teil des estnischen Alltags. Wie hat Estland es geschafft, die Bürgerinnen und Bürger für die Digitalisierung fit zu machen, vor allem die Älteren?
S.E. Alar Streimann: Das ist Schritt für Schritt geschehen, seit wir 2001 begonnen haben. Die neuen öffentlichen digitalen Dienste haben dazu beigetragen, Vertrauen unter den Nutzern aufzubauen, und die Nutzer haben sich ihrerseits daran gewöhnt, vom Staat qualitativ hochwertige Dienstleistungen zu erhalten. Was die älteren Menschen betrifft, so haben wir zu Beginn des Jahrtausends in den Dorf- und Stadtteilbibliotheken kostenlose Einsteigerkurse für ältere und pensionierte Menschen angeboten. Ein weiterer wichtiger Meilenstein war die Einführung des elektronischen Rezepts und des digitalen Patientenportals im Jahr 2008, die bei älteren Menschen sofort sehr beliebt wurden. Ich denke, heute ist es sehr schwierig, in Estland jemanden zu finden, der nicht zumindest grundlegende Computerkenntnisse hat. Ein Schlüssel zum Erfolg war auch, dass alle öffentlichen Dienstleistungen, heute mehr als 3000, über das Mobilfunknetz buchstäblich im ganzen Land, auch im entlegensten Winkel, verfügbar sind. Man muss auch bedenken, dass in Estland die Digitalisierung der öffentlichen Dienste nie ein Ziel an sich war, sondern ein Mittel, um das tägliche Leben zu erleichtern. Das bedeutet auch, dass es eine ganze Landschaft von großen und kleinen estnischen Unternehmen gibt, die fast 20 Jahre Erfahrung in der Entwicklung praktischer, verbraucherorientierter digitaler Lösungen haben. Der IKT-Sektor macht heute fast 10 % des estnischen BIP und 5 % der Erwerbsbevölkerung aus.s 
 

Interview: Marie Wildermann