Interview„Die Welt ist heute eine andere als 2010“

Weltweite Krisen, Konflikte und territoriale Machtansprüche – zum Teil direkt vor der europäischen Haustür – bedrohen auch die Sicherheit Europas und Deutschlands. Viele Gewissheiten der europäischen Nachkriegsordnung gerieten in den letzten Jahren ins Wanken, neue sicherheitspolitische Strategien sind nötig. Darüber und über das Selbstverständnis der Bundeswehr und über die Rolle Deutschlands innerhalb der NATO haben wir mit Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer gesprochen.

DM: Frau Kramp-Karrenbauer, Anfang Dezember 2020 ist der Bericht „NATO 2030“ erschienen, eine Analyse der internationalen Sicherheitslage mit Empfehlungen für das Bündnis. Welche Empfehlungen betrachten Sie als die wichtigsten?
Verteidigungsministerin: Die wichtigste Botschaft des Berichts ist, dass er zeigt, wieviel Leben in der NATO steckt! Es sind ja Kritik und Vorschläge aus allen Mitgliedsstaaten aufgenommen und auch zum Teil kontrovers diskutiert worden. Die NATO ist also quicklebendig, und der Bericht zeigt auch gerade dort, wo er Mängel im Bündnis aufzeigt, wie dringend die Allianz gebraucht wird. Wichtigste Einzelempfehlung ist sicher, das Strategische Konzept der NATO zu aktualisieren. Die Welt heute ist eine andere als 2010. Wir haben es mit einer neuen strategischen Konstellation zu tun, nicht zuletzt aufgrund der rasanten technologischen Entwicklung. Das alles kann im Strategischen Konzept Niederschlag finden, ohne dass man es dafür ganz neu schreiben müsste. Über viele andere Einzelempfehlungen, zum Beispiel zu China und zur Kooperation mit der EU wird jetzt intern beraten. Ziel ist es, eine zukunftsfeste NATO zu schaffen. Der Generalsekretär erarbeitet den Plan dafür, beim NATO-Gipfel im Frühjahr werden dann erste Entscheidungen getroffen.

DM: Sind Russland und China die beiden neuen Hauptgegner der NATO?
Verteidigungsministerin: Die NATO richtet ihren Blick immer auf Bedrohungen und Risiken über das gesamte Spektrum hinweg. Wenn zwei große Mächte offen erklären, dass sie die bestehende Ordnung außer Kraft setzen und andere, weniger freiheitliche Modelle des internationalen Miteinanders zum globalen Standard machen wollen, dann sind wir da sehr wachsam. Russland rüstet unbeirrt militärisch auf, in direkter Nachbarschaft der Europäischen Union, an der Ostgrenze der NATO, auch unter Umgehung internationaler Vereinbarungen. Das bedroht die Sicherheitsarchitektur Europas schon heute ganz konkret. China lehnt das westliche Modell der offenen Gesellschaft, der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit ab und versucht ganz offen, es zu schwächen. Die langfristige Bedrohung für unsere Sicherheit, unseren Wohlstand und das Zusammenleben in Frieden und Freiheit sind also real. Die NATO wird weiter gefordert sein. Und allen Unkenrufen zum Trotz ist sie reaktionsfähig. Das hat sie auch nach der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim 2014 unter Beweis gestellt. An der Ostflanke der NATO hat die Rückversicherung im Bündnis funktioniert. Zugleich hat die NATO immer wieder unsere Gesprächsbereitschaft mit Russland betont. Zum Umgang mit China konnten wir uns beim NATO-Gipfel 2019 in London auf eine gemeinsame Position einigen. Darüber bin ich sehr froh, denn angesichts Chinas Größe, Wirtschaftskraft und Ambition sind wir gut beraten, uns eng abzustimmen.


DM: Das NATO-Mitglied Türkei hat seinen Machtanspruch auf Syrien ausgedehnt, spielt eine unrühmliche Rolle im Kaukasus und provoziert den NATO-Partner Griechenland im Mittelmeer wegen der dortigen Erdgas- und Ölvorkommen. Widerspricht das nicht den Werten und den sicherheitspolitischen Interessen, sowohl Deutschlands als auch denen der NATO?
Verteidigungsministerin: Die Türkei ist und bleibt angesichts der globalen Großwetterlage ein strategisch wichtiger Alliierter mit gemeinsamen Interessen nicht nur an der Südost-Flanke der NATO. Die Türkei ist ein wichtiger Truppensteller für NATO-Missionen und verfügt über hochwertige militärische Fähigkeiten. Aber natürlich ist der Zusammenhalt in der NATO elementar und ich werde mich deswegen weiterhin für einen partnerschaftlichen Interessenausgleich innerhalb der Allianz einsetzen. Einseitiges Verhalten zulasten von NATO-Partnern ist inakzeptabel. Das sagen wir unseren türkischen Partnern auch sehr offen. Der Zusammenhalt der NATO ist für alle Verbündeten von zentraler Bedeutung – nicht zuletzt für die Türkei in ihrer sehr exponierten geopolitischen Lage.


DM: Welche Rolle nimmt Deutschland in der Welt ein, unter sicherheitspolitischen Aspekten?
Verteidigungsministerin: Deutschland spielt eine wichtige Rolle und engagiert sich in zahlreichen Einsätzen und Missionen. Es ist klar, dass wir uns in Zukunft noch stärker einbringen müssen. Die Erwartungen an uns sind sehr hoch – zu Recht. Deutschland hat die viertgrößte Volkswirtschaft der Welt, liegt in der Mitte des weltgrößten Binnenmarkts und hat ein existenzielles Interesse an regelbasierter Ordnung, globaler Stabilität, sicheren Handelswegen und friedlicher Kooperation. Mit dem Weißbuch 2016 haben wir uns zur Übernahme von mehr Verantwortung bekannt – auch bei der militärischen Sicherheit. Das füllen wir mit Leben, und wir werden unser Engagement auch konsequent ausweiten, wo wir gebraucht werden und wo unsere Sicherheit betroffen ist. In der NATO bringen wir uns mit vielen Fähigkeiten ein, sind wichtiger Geldgeber und zweitgrößter Truppensteller, vom Baltikum über den Balkan und das Mittelmeer bis nach Afghanistan. In der EU haben wir in der zurückliegenden deutschen Ratspräsidentschaft konkrete sicherheitspolitische Projekte vorangetrieben, z.B. die erste gemeinsame Bedrohungsanalyse aller EU-Mitgliedstaaten überhaupt. Unseren ausländischen Partnern mag manche Zögerlichkeit in der deutschen innenpolitischen Debatte zu Sicherheit und Verteidigung etwas eigenartig vorkommen. Mir ist dabei aber eins besonders wichtig: man kann sich auf uns verlassen. Wir sind da, wenn es drauf ankommt.
 

DM: Die Bundeswehr ist auch im internationalen Krisenmanagement engagiert, zum Beispiel in Afghanistan, wo das Mandat am 31. März 2021 endet. Wie ist die Bilanz des Afghanistan- Einsatzes?
Verteidigungsministerin: Der militärische Kernauftrag, nämlich dem internationalen Terrorismus Afghanistan nicht als sicheren Rückzugsort zu überlassen, ist weitgehend erfüllt worden. Auch bei dem anderen Ziel, das wir verfolgt haben, nämlich die Grundlage für mehr Demokratie und bessere ökonomische Entwicklung zu schaffen, sind wir ein gutes Stück vorangekommen. Durch das gemeinsame Engagement der internationalen Gemeinschaft wurden die Lebensverhältnisse vieler Menschen in Afghanistan verbessert. Der Zugang zu frischem Wasser und Elektrizität gehört ebenso dazu wie medizinische Versorgung und der Zugang zu Bildung, gerade für Mädchen. Junge Menschen haben sich stärker vernetzt, eine neue Medienlandschaft ist entstanden. Vieles werden die Afghanen bewahren wollen. Die Sicherheitslage bleibt allerdings unbefriedigend und die politische Zukunft ist noch ungewiss. Unser Blick richtet sich nun nach vorn. In Doha verhandeln afghanische Regierung und Taliban seit September 2020 über die Zukunft ihres Landes. Deutschland unterstützt diesen Prozess nach Kräften. Denn am Ende gilt: die Zukunft Afghanistans muss von Afghaninnen und Afghanen gebaut werden.  

DM: Das Image der Bundeswehr könnte besser sein. Unsere Soldatinnen und Soldaten haben Anerkennung verdient für ihre teils sehr gefährlichen Einsätze. Was werden Sie unternehmen, um das Image der Bundeswehr zu stärken?
Verteidigungsministerin: Die Bundeswehr genießt als Teil unserer Demokratie und als Verfassungsorgan hohes Vertrauen in der Gesellschaft. Umfragen zeigen, dass mehr als drei Viertel der Bevölkerung die Bundeswehr positiv sehen. Bei jungen Menschen ist die Bundeswehr der zweitbeliebteste Arbeitgeber. Dennoch wünsche ich mir, dass unsere Soldatinnen und Soldaten noch mehr öffentliche Anerkennung für ihren schwierigen, oft auch gefährlichen Dienst an der Gemeinschaft erfahren. Um das zu erreichen kann die Bundeswehr selbst vor allem zwei Dinge tun: Erstens, sich in der Öffentlichkeit zeigen, in der Gesellschaft präsent sein. Die Menschen im Land sollen sehen, dass unsere Soldatinnen und Soldaten für sie da sind und ihre Uniform gerne tragen. Noch wichtiger aber ist es, konkrete Leistung zu bringen. Die Bundeswehr wird weiter professionell und verlässlich ihre Aufgaben erfüllen. Das gilt für die Auslandseinsätze genauso wie jetzt ganz aktuell bei der Bekämpfung der Corona-Pandemie. Hier leisten unsere Streitkräfte einen spürbaren, greifbaren Beitrag vor Ort. Das sehen unsere Bürgerinnen und Bürger, die Unterstützung schätzen sie – und das zeigen sie auch in vielen persönlichen Reaktionen gegenüber unseren Männern und Frauen.  

DM: War es ein Fehler, die allgemeine Wehrpflicht abzuschaffen?
Verteidigungsministerin: In den Jahren vor der Abschaffung 2011 bestand keine Wehrgerechtigkeit mehr, das heißt der größere Teil derer, für die eine „Pflicht“ bestand, wurde gar nicht zum Dienst herangezogen. Und Frauen wurden überhaupt nicht mitbetrachtet. Inzwischen hat sich die Bundeswehr verändert. Für ihre Aufgaben benötigt sie gut ausgebildetes Personal in oft sehr speziellen, fachlich anspruchsvollen Tätigkeiten. Eine Rückkehr zur klassischen Wehrpflicht halte ich nicht für realistisch und auch nicht für erstrebenswert. Was ich mir jedoch sehr gut vorstellen kann, wäre eine allgemeine Dienstpflicht für Frauen und Männer. Eine mögliche Option, einen solchen Dienst abzuleisten, wäre dann der Wehrdienst. Darüber sollten wir politisch debattieren, denn es gibt sowohl einen Bedarf als auch viel Bereitschaft bei jungen Menschen, sich einzubringen. Wie so etwas aussehen kann, zeigen wir jetzt in der Bundeswehr mit einem ganz neuen Modell. Mit dem freiwilligen Wehrdienst im Heimatschutz „Dein Jahr für Deutschland“ haben wir ein zusätzliches Angebot geschaffen, mit dem sich junge Menschen in ihrer Region für ihr Land engagieren können. Das wird sehr gut angenommen und wir freuen uns, im April mit den ersten Rekrutinnen und Rekruten zu starten. 

DM: Frau Kramp-Karrenbauer, wir danken Ihnen sehr herzlich für dieses Gespräch.