Chiles Botschafterin Mackenna Chile - 6.435 Kilometer voller Energie

Frau Botschafterin, aus welchen Energiequellen setzt sich die Bruttostromerzeugung in Chile derzeit zusammen?

Die Botschafterin von Chile I.E. Cecilia Mackenna

Das Bruttostromerzeugungsnetz setzte sich 2019 aus Thermoelektrizität (56 Prozent), konventioneller Wasserkraft (24,6 Prozent) und nicht-konventionellen erneuerbaren Energien (19,4 Prozent) zusammen. Während des letzten Jahrzehnts hat Chile rasche Fortschritte bei der Installation erneuerbarer Energieerzeugungskapazitäten gemacht, insbesondere bei der Sonnen- und Windenergie. Folglich könnte der Beitrag der nicht-konventionellen erneuerbaren Energien bis 2035 40 Prozent des Netzes ausmachen. Wenn konventionelle erneuerbare Energiequellen in Betracht gezogen werden, könnten die erneuerbaren Energien auf 60 Prozent der Bruttostromerzeugung ansteigen.

Der chilenische Energieminister Juan Carlos Jobet (5. v. l.) setzt sich für die Förderung erneuerbarer Energien ein.

Welche energiepolitischen Ziele hat sich Chile bis 2050 gesetzt und wie sollen sie erreicht werden?

Chile hat zusätzlich zu seinen nationalen Zielen, die im Rahmen der COP 25 festgelegt wurden, eine Energiestrategie für 2050, demnach muss Chile seine Treibhausgasemissionen bis 2050 um 70 Prozent reduzieren. Im Februar 2020 hat sich die Regierung von Präsident Piñera jedoch verpflichtet, bis 2050 eine vollständige Kohlenstoffneutralität zu erreichen, Chile ist damit das erste südamerikanische Land, das sich dieses ehrgeizige Ziel gesetzt hat. Dieses Ziel wurde in den im Februar dieses Jahres an das Rahmenübereinkommen der Vereinten Nationen über Klimaänderungen (UNFCCC) übermittelten „national festgelegten Beiträgen“ (NDC) zum Ausdruck gebracht.
Um diese Ziele zu erreichen, enthält die Politik allgemeine Richtlinien zur Erreichung der erklärten Ziele. Diese Richtlinien beziehen sich auf die Schaffung eines ordnungspolitischen Rahmens, der diese Veränderungen ermöglicht und vorantreibt, Forschung und Innovation fördert und den Aufbau neuer Infrastruktur unterstützt, neben vielen anderen.
Es ist besonders wichtig, strategische Beziehungen mit anderen Ländern aufzubauen und ausländische Exzellenzzentren für die Arbeit in Chile zu gewinnen, um Kooperationsbeziehungen aufzubauen, die das notwendige technische Know-how in Bereichen mit großem Energiepotenzial bereitstellen.

Seit Monaten gibt es immer wieder Proteste gegen die chilenische Regierung. Dabei richten sich die Demonstrationen auch gegen die Privatisierung natürlicher Ressourcen.  Wie bewerten Sie diese Haltung?

Die Proteste in Chile fanden im normalen Kontext einer lebendigen Demokratie statt, in der die Bürger das Recht haben, friedlich zu demonstrieren. Seit der Rückkehr zur Demokratie in Chile (März 1990) haben die verschiedenen Regierungen in Chile die verschiedenen Forderungen der Bürger durch politische, wirtschaftliche und soziale Reformen aufgegriffen. Selbst die im letzten Jahr entstandene politische und soziale Situation wurde in einem modernen Rechtsstaat, das heißt durch institutionelle Reaktionen des politischen Systems, angemessen berücksichtigt. Aus diesem Grund werden die Chilenen Ende Oktober ein Referendum abhalten, um zu entscheiden, ob die gegenwärtige Verfassung beibehalten oder geändert werden soll. Auf diese Weise werden Demokratien durch institutionelle Kanäle transformiert und verbessert.

Was die Besorgnis über Umweltfragen betrifft, so kann ich Ihnen sagen, dass Chile leider eines der am stärksten vom Klimawandel betroffenen Länder ist. Deshalb gehören wir zu den Ländern Lateinamerikas, die sich am stärksten für die Erfüllung der Ziele des Pariser Abkommens engagieren, und wir arbeiten an den verschiedenen Umweltproblemen. Wie in anderen Demokratien haben auch in meinem Land alle politischen Sektoren, die Zivilgesellschaft und die Wirtschaft große Arbeit geleistet, um sicherzustellen, dass die Abkommen und Strategien in Umweltfragen eingehalten werden. Und das ist nicht leicht, denn wir alle möchten, dass die Verpflichtungen so schnell wie möglich umgesetzt werden, aber wir müssen verantwortungsbewusst handeln, wenn wir bis 2030 eine Reduzierung der Gasemissionen um 30 Prozent erreichen, saubere Energien fördern und unsere Energiematrix so umgestalten wollen, dass wir hauptsächlich nicht-konventionelle erneuerbare Energien nutzen, wie es bei der Sonnen- und Windenergie der Fall ist, wo wir große natürliche Vorteile haben.

Chile und Deutschland pflegen seit 2019 eine Energiepartnerschaft. Wie sieht diese genau aus?

Die im April 2019 unterzeichnete Energiepartnerschaft soll beiden Parteien ein Diskussionsforum und eine hochrangige politische Zusammenarbeit bieten, die Parteien aus beiden Ländern in Projekten von gemeinsamem Interesse verbindet. Die Projekte können dank des von der Partnerschaft eingerichteten ständigen Exekutivsekretärs durchgeführt werden, wobei unser deutscher Partner die Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) ist.
Diese Partnerschaft hat es ermöglicht, gemeinsame Projekte und Arbeitsgruppen in Bereichen von gemeinsamem Interesse zu koordinieren. Zum Beispiel trafen sich die Mitglieder der Partnerschaft während der von Chile geleiteten COP 25, um Strategien für die Energiewende und die Reduzierung des Kohleeinsatzes zu diskutieren. Im Januar 2020 fand die erste Sitzung des Richtlinienausschusses der Partnerschaft statt, auf der zwei gemeinsame Arbeitsgruppen mit klaren Zeitplänen für Sitzungen und Aufgaben eingerichtet wurden. Die erste Gruppe, die „Innovationsgruppe“, konzentrierte sich auf neue Lösungen im Kampf gegen den Klimawandel, während die zweite Gruppe, die „Dekarbonisierungsgruppe“, nach praktischen Lösungen suchte, um dieses Ziel voranzubringen.

Die derzeit wichtigste Zusammenarbeit im Rahmen der Partnerschaft bezieht sich auf die nationale Wasserstoffstrategie Chiles. Sie bietet eine Plattform, die den deutschen Industrie-, Wissenschafts- und Hochschulsektor mit den chilenischen Partnern verbindet, und hat den Prozess der Entwicklung und Rückkopplung der nationalen Wasserstoffstrategie Chiles unterstützt, die bis November dieses Jahres fertig gestellt sein soll.
In Zukunft wird sich diese Zusammenarbeit hauptsächlich um Wasserstoff drehen. Hier bietet Chile sehr wichtige komparative Vorteile. Derzeit übersteigt das Potenzial zur Erzeugung von erneuerbaren Energien in Chile bei Weitem den chilenischen Energiebedarf. Wir arbeiten daran, die Mittel zu entwickeln, um diese Kapazität zu nutzen und ein relevanter Anbieter und Exporteur von grüner Energie und Brennstoffen zu werden, die im Prozess der Energiewende in mehreren Ländern, darunter auch Deutschland, von großer Bedeutung sein könnten. In diesem Zusammenhang streben wir eine tiefere und umfassendere Zusammenarbeit mit Deutschland an, um diesen Sektor in Chile zu entwickeln. Dies könnte zu einer Win-win-Chance für unsere beiden Länder werden und den Weg für die Entwicklung einer nachhaltigen und wirtschaftlich tragfähigen Lösung zur Sicherung des Energiebedarfs unserer Länder weisen.

Im Jahr 2016 wurde in Chile das Zentrum für Forschung und Innovation im Bereich Meeresenergie MERIC eingeweiht. Welche Ziele verbinden sich mit dem Projekt?

Das MERIC ist das Ergebnis einer staatlichen Politik, die von der Regierung unabhängig geblieben ist. Die Chilenische Entwicklungsgesellschaft (CORFO) und das Energieministerium haben schon früh verstanden, dass eine auf Gezeitenkraft basierende Technologie eine sehr interessante Option für das chilenische Energienetz wäre, wenn man die 6.435 Kilometer lange Küstenlinie des Landes bedenkt. Auf der Suche nach mehr Wissen und neuen Technologien im Zusammenhang mit nicht-konventionellen erneuerbaren Energien starteten die CORFO und das Energieministerium ein Projekt, das „Programm zur Anziehung internationaler Exzellenzzentren für Forschung und Entwicklung“. So wurde 2014 unter der Regierung der ehemaligen Präsidentin Michelle Bachelet ein Abkommen über den Bau des MERIC-Zentrums mit der französischen Regierung unterzeichnet, das 2019 unter der derzeitigen Regierung von Präsident Sebastián Piñera offiziell eingeweiht wurde.
Das MERIC soll vor allem in zwei Forschungsbereichen nützliches Wissen für Behörden und Unternehmer entwickeln. Die erste Linie der Forschung und Entwicklung zielt darauf ab, Standorte mit dem größten Potenzial für die Installation von Gezeitenturbinen zu erforschen. Die zweite zielt darauf ab, die Installation, Wartung und Nutzung dieser Technologien zu untersuchen und Produkte zu erzeugen, die sich an die geografischen Gegebenheiten des chilenischen Territoriums anpassen.

Frau Botschafterin, vielen Dank.

INTERVIEW Enrico Blasnik