WIRTSCHAFT IN DER MENA-REGION DIE NEUE ARABISCHE WELT – DAS NÄCHSTE KAPITEL

Mehr als sieben Jahre sind seit den politischen Unruhen in den arabischen Ländern vergangen. Von Tunesien aus sprang der Protestfunke auf etliche andere Staaten in Nordafrika und Nahost. Überall in der arabischen Welt gingen vor allem junge Menschen auf die Straße, um gegen soziale und politische Missstände zu demonstrieren. Die manchmal als „Arabellion“ oder „Arabischer Frühling“ bezeichneten Protestbewegungen sorgten für viele politische Erschütterungen. Einigen Machthabern mit repressivem Führungsstil ging es – bisweilen buchstäblich – an den Kragen: Tunesiens Präsident Zine el-Abidine Ben Ali floh ins Exil, Ägyptens Autokrat Husni Mubarak trat gezwungenermaßen zurück, der frühere jemenitische Präsident Ali Abdullah Saleh wurde nach seinem Amtssturz offenbar von Huthi-Rebellen getötet, und das Schicksal von Libyens Diktator Muammar al-Gaddafi ist hinlänglich bekannt. In anderen Regimen der MENA-Region (Middle East & North Africa) kam es zu Regierungsumbildungen sowie politischen, sozialen und wirtschaftlichen Reformen.

Hohe Prominenz auf dem 21. Arab-German Business Forum in Berlin: der Ehrengast der Veranstaltung, Premierminister von Kuwait, H.H. Scheich Jaber Mubarak Al-Hamad Al-Sabah (7. v. l.), Wirtschaftsminister Peter Altmaier (6. V. l.) und Ghorfa-Chef Dr. Peter Ramsauer (8. v. l.) neben vielen Botschaftern der arabischen Länder

Seit den 1980er-Jahren umfasst diese ökonomische Umstrukturierung in vielen arabischen Ländern, auch auf Druck des Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Europäischen Union (EU), die Liberalisierung des Außenhandels, die Privatisierung staatlicher Unternehmen, die Diversifizierung der Wirtschaft und die Entwicklung eines lokalen Mittelstands. Von Marokko bis zum Iran wünscht man sich Prosperität und Stabilität, um das Auseinanderdriften zwischen Arm und Reich abzubremsen und vor allem jungen Menschen ein Leben in Frieden und Würde zu ermöglichen. Die Bevölkerung der arabischen Länder gehört zu den jüngsten der Welt. Die jungen Leute sind heute durchschnittlich besser ausgebildet, als es ihre Eltern je waren, und durch die technischen Möglichkeiten vernetzter und weltoffener.

Das Credo des Events unter der Schirmherrschaft von Wirtschaftsminister Peter Altmaier lautete, die deutsch-arabischen Wirtschaftsbeziehungen, deren Handelsvolumen jährlich 50 Milliarden Euro umfassen, weiter auszubauen.

Mehr als nur Handel

Viele arabische Volkswirtschaften sind im Kommen, was auch auf die Wirtschaftsreformen zurückzuführen ist. Trotz der internationalen Handelsstreitigkeiten stabilisieren sich die Ölpreise. Es wird unfassbar viel Geld in die Hand genommen und in gewaltige Infrastrukturprojekte und Technologie gesteckt. Der IWF prognostiziert für dieses Jahr eine Wachstumsrate der Region von 3,6 Prozent. Vielversprechend sind die Aussichten, dass sich die arabische Welt zu einer führenden Wirtschafts- und Investitionsregion entfaltet. Die Themen Fortschritt und Potenzial bildeten zugleich auch das Framing, den interpretativen Rahmen, beim 21. Arab-German Business Forum Ende Juni in Berlin. Das als Plattform für arabische und deutsche Unternehmer gedachte Forum wurde dieses Jahr erneut von der Ghorfa, also der Arab-German Chamber of Commerce and Industry, in Zusammenarbeit mit der Union of Arab Chambers, der Deutschen Industrie- und Handelskammer (DIHK) sowie der Kuwait Chamber of Commerce and Industry veranstaltet.

Zwischen Tradition und Aufbruch: Die Pilgerstätte des Islams Mekka in Saudi-Arabien im Vordergrund, Konstruktionsarbeiten im Hintergrund

Das Credo des Events unter der Schirmherrschaft von Wirtschaftsminister Peter Altmaier lautete, die deutsch-arabischen Wirtschaftsbeziehungen, deren Handelsvolumen jährlich 50 Milliarden Euro umfasst, weiter auszubauen. Das beträfe aber nicht nur den Handel, sondern auch wechselseitige Investitionen, Wissensaustausch und Technologietransfer. Auch der mit einem Augenzwinkern selbsternannte „gewichtigste Minister in der deutschen Bundesregierung“ schlug in dieselbe Kerbe und erkannte gar ein „arabisches Wirtschaftswunder“, das gefördert werden müsse. Dass unterm Strich der Kooperationen ein Quidproquo stehen soll, darin waren sich auch Libanons Botschafter S.E. Dr. Mustafa Adib und der Präsident der Union of Arab Chambers Nael Al-Kabariti einig. In Anspielung auf die Handelsstreitigkeiten zwischen US-Präsident Donald Trump der EU lockte Al-Kabariti auch mit der Strategie, sich eher zum großen Investitionsmarkt der arabischen Länder zu orientieren.

Das Investitionspotenzial erkannt: Die Bayrische Firma Mühldörfer beliefert auch Hotels in den arabischen Ländern mit Daunenbetten und Kissen. Hier im Bild: Maximiliana Pangerl, Geschäftsführerin von Mühldorfer.

Ressourcenfluch brechen

Wirtschaftliche Prosperität ist die Grundlage für Entwicklung und Stabilität in der MENA-Region. Für deutsche Unternehmen, insbesondere mittelständische und kleine, bieten sich allerlei Geschäftschancen im Energiesektor, in Bildung und Gesundheit. Es sind gerade diese Bereiche mit riesigem Potenzial, da vielerorts dringend Nachholbedarf besteht. Und allerspätestens an dieser Stelle sollte man anfangen, zu differenzieren. Die arabische Welt ist keineswegs homogen. Industrieländer wie Saudi-Arabien, Katar, Bahrain, Kuwait und die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) besitzen ganz andere Voraussetzungen als die Schwellen- und Entwicklungsländer, wie beispielsweise der Jemen, der Libanon und der Irak, die größtenteils noch agrarisch ausgerichtet sind. Das hat vor allem mit Ressourcen, aber auch mit politischer Instabilität und dem „Vermächtnis“ der jüngeren und älteren Geschichte zu tun, Stichworte: Bürgerkrieg in Syrien, Irakkrieg oder die Auswirkungen des Sykes-Picot-Abkommens von 1915 zwischen Großbritannien und Frankreich.

Der Golfkooperationsrat (Gulf Cooperation Council, GCC) gehört zu den wichtigsten Organisationen zur primär wirtschaftlichen Integration am Arabischen Golf – hierzulande auch Persischer Golf genannt. Die Mitglieder des GCC haben den Schuss längst gehört, sie wissen, dass das internationale Ölgeschäft lediglich ein Standbein ihrer Wirtschaftsleistung ist, und das auch nicht mehr für ewig. Erfahrungen aus der Vergangenheit mit der „Holländischen Krankheit“ und enormer Verschuldung führten zum Umdenken bei den dynastischen Regimen und zu Reformprozessen. Deshalb steht die Diversifizierung der Branchenstruktur an erster Stelle. Die meisten von ihnen hegen ambitionierte, langfristige und milliardenschwere Visionspläne, oder Masterpläne, wenn man so will, die häufig Modelle nachhaltiger Industrie- und Stadtentwicklung, wissensbasierte Ökonomien oder umfangreiche Kulturprogramme vorsehen. Zudem werden gewaltige Anstrengungen im Bildungswesen oder im Gesundheitssystem unternommen, weil man sich auch hier wirtschaftlichen Erfolg verspricht.

Dr. Peter Ramsauer, ehemaliger Verkehrsminister und heute Präsident der deutsch-arabischen Handelsvereinigung Ghorfa, betonte bei der Veranstaltung in Berlin ostentativ, „persönliche Treffen“ und „Gespräche auf Augenhöhe“ seien der Schlüssel zur erfolgreichen Zusammenarbeit zwischen der Bundesrepublik und den arabischen Ländern – auch, um zu unterstreichen, dass der eurozentrische, hegemoniale Blick auf die arabische Welt, auch was Geschäftliches betrifft, passé ist. Um das Geschäft kümmert sich offenbar auch die Ghorfa selbst. Über die Kritik bezüglich ungewöhnlicher Praktiken berichtete die Zeitschrift Der Spiegel, auch schon zu Bonner Zeiten.

Überall Potenzial

Der deutsche Botschafter in Saudi-Arabien S.E. Dieter Walter Haller sprach auf dem Business-Forum in einer Diskussion indes über die Notwendigkeit eines „Paradigmenwechsels“ bei der Politik mit arabischen Staaten. Womöglich hatte er auch den „Gabriel-Eklat“ aus dem vergangenen November und das unterkühlte Verhältnis zwischen Deutschland und Saudi-Arabien im Hinterkopf. Recht hat er aber dennoch, es braucht auf beiden Seiten noch mehr Kulturverständnis. Die arabischen Länder der MENA-Region sind unmittelbare Nachbarn der EU. Es wäre zu kurzsichtig, die Beziehungen zu sehr auf sicherheitspolitische Aspekte zu reduzieren, ohne jedoch die zahlreichen Kriege, Kämpfe und Konflikte auch für nur eine Sekunde zu verdrängen. Trotz der Krisenhaftigkeit und vieler politischen Risiken birgt die arabische Welt dank der Öffnung für Auslandskapital riesige Chancen für deutsche Unternehmen und Investoren, so in den Bereichen Digitalisierung, E-Government, Infrastruktur oder erneuerbare Energien. Ausschreibungen zu modernen Megaprojekten in den MENA-Ländern gibt es genug.

Die ökonomischen Voraussetzungen verbessern sich aufgrund der Liberalisierung von Tag zu Tag. In der Folge werden etwa die erfolgreichsten Volkswirtschaften der MENA-Region in die Emerging-Market-Indizes führender Ratingagenturen aufgenommen, was weltweit Anleger aufhorchen lässt. Zudem ist ein sozialer Wandel in den arabischen Ländern spürbar. Dass Frauen in Saudi-Arabien jetzt Autos fahren, veranschaulicht das exemplarisch. Die Protestwelle in der „Arabellion“ war auch Ausdruck dieses Wandels, des Aufstrebens der neuen Generation und des Verlangens nach Zukunftsperspektiven. Letztere schafft man im Idealfall gemeinsam.

 

TEXT Enrico Blasnik