Politics & StandpointsProf. Dr. Volker Perthes: "Können wir deshalb sagen: Wir ignorieren Syrien?"

Professor Perthes, auf vielen nationalen und internationalen Konferenzen ist eines der Hauptthemen die aufstrebende Wirtschaftsmacht China und die Frage, was das für das internationale Mächteverhältnis bedeutet. Oft geht es um das Projekt der „Neuen Seidenstraße“ und seine geopolitischen Auswirkungen. Wie bewerten Sie das Thema?    

Dieses große geopolitische und geoökonomische Projekt Belt and Road Initiative (BRI) ist eher Ausdruck des ökonomischen und mittlerweile politischen Aufstiegs Chinas. Seit einigen Jahren beschwert sich China nicht mehr darüber, dass es in internationalen Institutionen unterrepräsentiert sei, sondern fängt an, selbst Institutionen aufzubauen, und lädt andere Akteure ein, sich daran zu beteiligen. Das sehen wir auf unterschiedlichen Spielfeldern, zum Beispiel bei der Asian Infrastructure Investment Bank und eben auch bei einem solchen riesigen Infrastruktur- und Konnektivitätsprojekt wie der BRI. Und das fordert andere Spieler heraus. Das geopolitische Risiko besteht nun darin, dass die Weltmächte USA und China es nicht schaffen, ihre strategischen Beziehungen in konstruktiver und friedlicher Weise zu regeln.

Prof. Dr. Volker Perthes (r.), Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin, und Enrico Blasnik, Redakteur des Diplomatischen Magazins

Konstruktiv und friedlich Beziehungen regeln ist ein gutes Stichwort. Die USA haben angekündigt, den mit der damaligen Sowjetunion geschlossenen INF-Vertrag zur atomaren Abrüstung aufzukündigen. Könnte es international einen Spill-Over-Effekt geben, das heißt, Staaten rüsten vermehrt auf, sollte es wirklich zum Vertragsende kommen?

Tatsächlich haben wir heute, wo wir das Interview führen, bis zum möglichen Ende des INF-Vertrags noch knapp sechs Monate Zeit. Ich würde mir wünschen, dass sowohl von amerikanischer Seite und der NATO als auch von Russland Versuche unternommen würden, den Vertrag zu retten. Da gibt es ja eine Reihe von Ideen, auch von deutschen Bundestagsabgeordneten. Realistischerweise gehe ich aber nicht davon aus, dass die USA und Russland den Vertrag retten.

Warum?

Nun, das hat unterschiedliche Gründe. Erstens ist das Interesse der beiden Mächte daran nicht groß genug. Mit Präsident Putin und Präsident Trump haben wir zwei besondere Politiker und Top-Entscheider, die sich ihre Hände ungern durch Verträge binden lassen. Zweitens fühlen sich beide Staaten in unterschiedlicher Form durch China herausgefordert, dessen Raketenrüstung im Wesentlichen aus Mittelstreckenraketen besteht. Die USA und Russland sagen jetzt, dass ein Vertrag, der sie bindet, auf etwas zu verzichten – nämlich auf landgestützte Raketen einer bestimmten Reichweite –, sie benachteiligt und es ihnen verwehrt, dort ein symmetrisches, strategisches Gleichgewicht herzustellen, wo sie es für sicherheitspolitisch relevant halten, während anderen Staaten das nicht verboten ist.
In der Tat haben Washington und Moskau 2007 schon einmal versucht, in der UN-Generalversammlung  eine Diskussion über ein globales, multilaterales Regime zum Verbot dieser landgestützten Mittelstreckenwaffen auf den Weg zu bringen. Aber schon damals hatten Staaten wie China, Indien, Pakistan oder Iran kein Interesse an einer solchen Diskussion.

Was heißt das für Europa?

Militärisch heißt das für Europa relativ wenig, weil bisher weder die USA noch Russland signalisieren, neue Mittelstreckenraketen in Europa zu positionieren. Russlands sogenannte SSC-8 Cruise Missiles, die nach Einschätzungen der NATO den INF-Vertrag verletzen, könnten zum Beispiel in Kaliningrad eingesetzt werden. Wenn dies nachweisbar der Fall sein sollte, hätten die Amerikaner genügend Möglichkeiten, mit see- oder luftgestützten Systemen eine Balance herzustellen. Auch NATO-Generalsekretär Stoltenberg hat in seiner ersten Reaktion auf die gegenseitige Aufkündigung des Vertrags gesagt, es gebe kein Interesse, jetzt in Europa neue Raketen aufzustellen.
Jedoch, Aufrüstungsspiralen gibt es so oder so, insbesondere bei neueren Waffen, die nicht notwendigerweise nuklear bestückt sein müssen, sogenannte konventionelle Präzisionswaffen. Bei dieser Aufrüstung sind nicht nur Russland und die USA, sondern auch andere Staaten wie nicht zuletzt China beteiligt.

Von vielen Seiten wird auch verlangt, dass Europa sich besser verteidigen müsste.

Es gibt diese Diskussion über eine stärkere strategische Autonomie Europas. Diese hat sehr viel mit den geopolitischen und politischen Veränderungen in der Welt zu tun. Wir haben in Europa festgestellt, dass wir uns auf die USA unter dem gegenwärtigen Präsidenten nicht im gleichen Maße verlassen können oder wollen, wie wir das früher getan haben. Gleichzeitig haben wir die richtige Forderung, dass Europa selbst mehr für seine Verteidigung tun soll, um die USA zu entlasten. Die Konsequenz daraus ist, dass Europa in einer tatsächlich unsicheren und ungewisseren Welt in den Bereichen Verteidigung, Wirtschaft, Technologie und Energie etwas mehr für sich selbst tun muss. Das heißt nicht notwendigerweise Aufrüstung, aber vor allem bessere Zusammenarbeit bei der Rüstungsplanung und -produktion.

Das Thema Rüstungskontrolle hat sich Deutschland auch im UN-Sicherheitsrat auf die Agenda geschrieben. Was kann Deutschland dort bewirken?

Deutschland hat sich in den letzten Jahren als verlässlicher und glaubwürdiger Akteur für den UN-Sicherheitsrat erneut empfohlen. Jetzt sind wir für zwei Jahre nichtständiges Mitglied, und das heißt zunächst, dass Deutschland bei den aktuellen krisengetriebenen Diskussionen aktiv dabei sein muss. Wo immer es Krieg und Bürgerkrieg gibt, wo immer es größere Katastrophen gibt, die für Frieden und Sicherheit Herausforderungen darstellen, dort sind die Deutschen da. Und dann kann man selbst noch in anderen Bereichen versuchen, Akzente zu setzen – wie in der internationalen Gesundheitspolitik, bei Fragen der Rechte von Kindern in Konfliktgebieten oder eben Rüstungskontrolle im 21. Jahrhundert. Es geht hier nicht nur um Interkontinentalraketen, sondern wir haben auch neue Waffengattungen wie Cyber- und Hyperschallwaffen oder Militärroboter. Da ist es meines Erachtens sehr richtig, dass das Auswärtige Amt die Frage der Standards im Umgang mit solchen Waffen auf die Tagesordnung bringt. Dazu findet ja in Kürze auch eine Konferenz hier in Berlin statt, zu der der deutsche Außenminister bald einlädt.
Ein anderes zunehmend großes Thema sind die sicherheitspolitischen Auswirkungen des Klimawandels. Auch hier gilt Deutschland als sehr glaubwürdiger Partner, auch von kleineren Staaten. Keineswegs handelt es sich aber bei dem Thema nur um ein Inselstaaten-Problem. Wenn Sie sich vorstellen, dass der Klimawandel wie in den letzten Jahrzehnten so ungebremst weiter voranschreitet, und das in Bezug setzen zu Entwicklungsproblemen, Dürrekatastrophen, Bevölkerungswachstum und Migrationsdruck in Afrika, dann sehen Sie einen Komplex, bei dem internationale Zusammenarbeit dringend notwendig ist. Auch in den nächsten Jahrzehnten müssen wir davon ausgehen, dass es immer wieder zu größeren Wanderungs- und Flüchtlingsbewegungen kommt. Deshalb war es richtig, dass die internationale Gemeinschaft mit dem UN-Migrationspakt versucht hat, gemeinsame Normen und Prinzipien zu entwickeln. Bei Migration geht es schließlich nicht nur um Grenz-, Entwicklungs- oder nur Außenpolitik. Es handelt sich um einen Ursachen- und Krisenkomplex, der nur durch einen – im wahrsten Sinne des Wortes – integrierten internationalen Ansatz zu bearbeiten ist. Wenn wir das nicht hinbekommen, werden wir genauso überrascht und unkoordiniert sein wie bei der sogenannten Flüchtlingswelle von 2015.

Die Amerikaner planen indes, ihre restlichen Truppen aus Syrien abzuziehen. Sie waren selbst einige Zeit als Berater des ehemaligen UN-Sonderbeauftragten für Syrien, Staffan de Mistura, tätig. Was bedeutet das für das Land und die Region?

Was wir feststellen können, ist, dass der ursprüngliche Krieg zwischen dem syrischen Regime und der Anti-Regime-Opposition in Syrien entschieden ist. Die Regierung des Präsidenten Assad hat diesen Krieg mit massiver Hilfe Russlands und Irans gewonnen. Allerdings gibt es noch einige Regionen, die nicht unter der Regierung von Damaskus stehen, aber das ist letztlich eine Frage der Zeit. Wenn die amerikanischen Truppen das Land verlassen haben werden, werden die kurdischen Milizen, mit denen die USA zusammengearbeitet haben, vermutlich eine Form des Arrangements mit Syriens Regierung suchen. Sie stehen sozusagen zwischen dem türkischen Hammer und dem syrischen Amboss. Dann muss auch die internationale Staatengemeinschaft überlegen, wie sie mit Syrien umgeht. Die arabischen Staaten sind ja derzeit dabei, ihr Verhältnis zu Syrien zu normalisieren, das heißt, die abgebrochenen diplomatischen Beziehungen nach und nach wiederherzustellen.
Auch Europa wird sich Gedanken machen müssen, was zu tun ist. Auf der einen Seite haben die Europäische Union und ihre Mitgliedsstaaten kein Interesse daran, einen Wiederaufbau Syriens zu finanzieren, der letztlich die korruptesten Elemente in und um die Regierung Assads unterstützt. Idealerweise würde es nach dem Ende eines Krieges eine politische Transformation geben, bei der im Rahmen eines großen Versöhnungsprozesses alle Kräfte, die sich bekriegt haben, wieder miteinander zusammenarbeiten. Ich sehe das nicht. Dies sind die Versuche der Vereinten Nationen gewesen, den Krieg durch Verhandlungen zu lösen, die nicht von Erfolg gekrönt waren. Insofern werden wir in Syrien voraussichtlich auf absehbare Zeit mit einem Regime zu tun haben, das für den größten Teil der Kriegstoten, der Zerstörung und Fluchtbewegung aus dem eigenen Land verantwortlich ist.
Können wir deshalb sagen: Wir ignorieren Syrien? Nein, das können wir nicht. Syrien ist zu fragil, um von Europa ignoriert zu werden. Wir werden Wege finden müssen – auch mit dem externen Akteur, der in Syrien am meisten zu sagen hat, nämlich Russland –, darüber zu reden, auf welche Art und Weise wir  bestimmte Aufbaumaßnahmen in den vom Krieg zerstörten Regionen von außen unterstützen können. Das wird sicherlich eher mit lokalen Akteuren und internationalen und nichtstaatlichen Organisationen als mit den Ministerien des Zentralstaats in Damaskus geschehen.

Professor Perthes, vielen Dank für Ihre Zeit.

 

INTERVIEW Enrico Blasnik