Peter Küspert "Ich sehe die Demokratie in Deutschland derzeit noch nicht als ernsthaft bedroht an"

Herr Küspert, die Richter des Bundesverfassungsgerichts werden je zur Hälfte vom Bundesrat und Bundestag bestimmt. Wie erfolgt die Ernennung der Richter des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs, nach welchem Verfahren sind Sie dessen Präsident geworden?

Grundsteinlegung des Strafjustizzentrums München mit dem bayerischen Justizminister Prof. Dr. Winfried Bausback (l.), Bayerns Ministerpräsidenten Dr. Markus Söder (M.) und Peter Küspert, Präsident des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs

Der Bayerische Verfassungsgerichtshof besteht neben dem Präsidenten aus Berufsrichtern und nichtberufsrichterlichen Mitgliedern und ihren Vertretern. Alle Mitglieder des Verfassungsgerichtshofs werden vom Bayerischen Landtag gewählt. Der Präsident, der immer einer der Präsidenten des Oberlandesgerichts München, Nürnberg oder Bamberg sein muss, und die berufsrichterlichen Mitglieder werden vom Landtag auf die Dauer von acht Jahren gewählt, das heißt, immer wenn die Amtszeit eines Mitglieds endet, wird ein Nachfolger gewählt oder es erfolgt eine Wiederwahl. Die nichtberufsrichterlichen Mitglieder und ihre Vertreter werden jeweils vom neuen Landtag nach seinem Zusammentritt für die jeweilige Legislaturperiode gemäß den Grundsätzen des Verhältniswahlrechts gewählt. Das ist zuletzt am 11. Dezember 2018 geschehen.

Peter Küspert (M.), Präsident des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs, zusammen mit acht Berufsrichtern

Im Sommer 2017 wurde in Polen der Landesrichterrat, der die Verfassungsrichter bestellte, aufgelöst, die nunmehr direkt vom Justizminister und der parlamentarischen Regierungsmehrheit ernannt werden. Könnte so etwas theoretisch auch in Deutschland oder Bayern passieren? Sind die Verfassungsorgane durch die Verfassung hinreichend geschützt?

Peter Küspert (l.), Präsident des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs, und Dr. Helmut Schmidt, Honorarkonsul von Mali in München

Der Verfassungsgerichtshof und wesentliche Grundlagen seiner Arbeit sind nicht nur im Gesetz über den Bayerischen Verfassungsgerichtshof, also einem einfachen Gesetz, festgeschrieben, sondern unmittelbar in der Bayerischen Verfassung (BV). Eine Neukonzeption wäre daher allenfalls durch eine Verfassungsänderung möglich. Dafür wäre eine Zweidrittelmehrheit der Mitglieder des Landtags erforderlich, und die Änderung müsste dem Volk zur Entscheidung vorgelegt werden. Zudem schützt die Bayerische Verfassung ausdrücklich das Rechtsstaatsprinzip und die richterliche Unabhängigkeit. Anträge auf Verfassungsänderungen, die solchen demokratischen Grundgedanken der Verfassung widersprechen, sind kraft Art. 75 Abs. 1 Satz 2 BV unzulässig und könnten im Kern also auch durch eine Verfassungsänderung nicht angetastet werden.

Wie viele Richter hat derzeit der Bayerische Verfassungsgerichtshof und für welche Gebiete nach Art. 2 BayVerfGHG sind diese zuständig?

Neben dem Präsidenten gibt es 22 berufsrichterliche Mitglieder, also solche, die im Hauptamt Richter auf Lebenszeit an einem Gericht des Freistaates Bayern sein müssen, und 15 weitere Mitglieder nebst deren Vertretern. Der Verfassungsgerichtshof entscheidet, je nach Verfahrensart, in unterschiedlicher Besetzung in sogenannten Spruchgruppen. Geht es um die Verfassungsmäßigkeit von Rechtsvorschriften, also vor allem bei Popularklagen, wirken in der Spruchgruppe neben dem Präsidenten acht berufsrichterliche Mitglieder mit, aber keine nichtberufsrichterlichen Mitglieder. In den übrigen Fällen, vor allem also bei Verfassungsbeschwerden, gehören der Spruchgruppe der Präsident, drei berufsrichterliche Mitglieder und fünf weitere Mitglieder an. Ein Geschäftsverteilungsplan regelt vorab und abstrakt, welche Spruchgruppe für welches Verfahren zuständig ist und welche Richter ihr angehören.

Wie viele und welche wichtigen Verfahren laufen derzeit beim Bayerischen Verfassungsgerichtshof?

Im Durchschnitt gehen beim Verfassungsgerichtshof seit 1947 circa 110 Verfassungsbeschwerden und etwa 20 Popularklagen pro Jahr ein. Dazu kommen jährlich einige andere Verfahren, wie etwa Organstreitverfahren, Wahlanfechtungen oder Entscheidungen über die Zulassung von Volksbegehren. Derzeit sind unter anderem Popularklagen beziehungsweise Meinungsverschiedenheiten zum Integrationsgesetz, zum Verfassungsschutzgesetz und zum Polizeiaufgabengesetz anhängig.

Ein Bürger rügt die Verletzung eines Grundrechts, das sowohl im Grundgesetz wie auch in der Bayerischen Verfassung garantiert ist. Wie ist das Konkurrenzverhältnis der beiden Verfassungen bezüglich der Grundrechte?

Ein Beschwerdeführer in Bayern kann parallel Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht und beim Verfassungsgerichtshof einlegen. Tut er das, prüft das Bundesverfassungsgericht eine Verletzung von Grundrechten des Grundgesetzes und der Verfassungsgerichtshof von solchen der Bayerischen Verfassung. Viele Grundrechte sind in beiden Verfassungen weitgehend identisch geregelt und bestehen nebeneinander. Allerdings geht die Bayerische Verfassung teilweise auch über das Grundgesetz hinaus, beispielsweise beim Recht auf Naturgenuss des Art. 141 Abs. 3 Satz 1 BV.

Art. 166 der Bayerischen Verfassung gewährt das Recht auf Arbeit. Könnte sich ein Arbeitsloser an Ihr Gericht wenden? Art. 168 Abs. 1 Satz 2 der Bayerischen Verfassung postuliert gleichen Lohn für Männer und Frauen für gleiche Arbeit. Dies entspricht nicht der Realität, ist also kein echtes Grundrecht, nur eine theoretische Forderung?

Art. 166 und 168 BV gewährleisten keine Grundrechte, sondern beinhalten sogenannte Programmsätze. Daher kann eine Verfassungsbeschwerde nicht auf einen Verstoß gegen diese Normen gestützt werden. Ein arbeitssuchender Bürger kann sich daher nicht mit einer Verfassungsbeschwerde unter Berufung auf Art. 166 BV an den Verfassungsgerichtshof wenden. Allerdings sind Programmsätze in der Verfassung keineswegs bedeutungslos. So kann der Verfassungsgerichtshof im Rahmen einer zulässig erhobenen Popularklage durchaus feststellen, dass eine bayerische Rechtsvorschrift einem Programmsatz der Bayerischen Verfassung unmittelbar widerspricht, und aus diesem Grund die Norm für nichtig erklären. Programmsätze können auch bei der Auslegung von anderen Verfassungsnormen eine Rolle spielen.

Europa hat keine Verfassung, diese scheiterte 2006 wegen des Einstimmigkeitserfordernisses an der fehlenden Zustimmung der Niederlande und von Frankreich. Halten Sie dieses Erfordernis grundsätzlich für praktikabel oder sollte man nicht besser auf qualifizierte Mehrheiten umstellen?

Das ist eine politische Grundsatzfrage, die die Mitgliedstaaten und die politischen Entscheidungsträger beantworten müssen. Unabhängig von der Frage, ob und inwieweit das wünschenswert und rechtlich zulässig wäre, halte ich es derzeit nicht für realistisch, am Einstimmigkeitserfordernis, das ja nur in wenigen Politikbereichen gilt, etwas zu ändern, weil dies ja zunächst ebenfalls Einstimmigkeit voraussetzen würde.

Brüssel hat im Lauf der Jahrzehnte immer mehr Regelungskompetenz an sich gezogen zu Lasten der Gesetzgebung der europäischen Nationen und deren Länder. Dies ist Argumentationshilfe für Populisten in Großbritannien, Italien, Polen und Ungarn. Sehen Sie hier bereits eine Überdehnung der Kompetenz oder sollte Brüssel eher wieder deregulieren?

Ein ganz wesentliches Grundelement der Europäischen Union ist das Subsidiaritätsprinzip. Art. 5 des EU-Vertrags bestimmt ausdrücklich, dass die Union in den Bereichen, die nicht in ihre ausschließliche Zuständigkeit fallen, nur tätig wird, sofern und soweit die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen von den Mitgliedstaaten weder auf zentraler noch auf regionaler oder lokaler Ebene ausreichend verwirklicht werden können. Nach meinem Eindruck geht die Tendenz in den letzten Jahren dahin, der Subsidiarität wieder stärker zur Geltung zu verhelfen und häufiger zu fragen: Muss das wirklich Europa machen oder können das die Mitgliedstaaten oder zum Beispiel die Bundesländer oder Kommunen nicht genauso gut oder besser. Gleichzeitig haben wir aber zum Beispiel bei der Eurokrise gesehen, dass es problematisch sein kann, wenn die Mitgliedstaaten in bestimmten Bereichen eigenständig souverän Politik machen, die Folgen für die gemeinsame Währung aber alle zu tragen haben. Die richtige Ausgewogenheit zwischen der Souveränität der Mitgliedstaaten und der ausreichenden Kompetenzausstattung der Union muss für jeden Politikbereich gesondert diskutiert werden und wird ein kontroverses Thema sein, solange es die Union gibt.
Bei aller notwendigen und auch kritischen Diskussion: Wir dürfen nicht zulassen, dass die große Errungenschaft der europäischen Einigung, nämlich Frieden und Freiheit seit fast einem Dreivierteljahrhundert, in Vergessenheit gerät.

In den genannten Ländern regt sich neuer Nationalismus. Den „Feind“, den man für solche Kampagnen braucht, erkennt man in Brüssel oder auch im scheinbar übermächtigen Deutschland. Auch bei uns haben populistische Parteien Zulauf, die sozialen Netzwerke sind ihr Verstärker. Erkennen sie hier eine nachhaltige Gefahr für die Demokratie?

Demokratie lebt wesentlich davon, dass der Souverän, also das Volk, angemessen informiert ist, um sachgerechte Wahlentscheidungen treffen zu können. Wenn Populisten aus egoistischen Motiven heraus – gerade auch durch falsche oder missverständliche Verlautbarungen – bewusst Ängste bei der Bevölkerung schüren, die politische Lage unangemessen dramatisieren und einen vermeintlichen „Feind“ zum Sündenbock ausrufen, ist das sicher problematisch. Trotzdem sehe ich in Deutschland die Demokratie derzeit – trotz mancher Einzelfälle – noch nicht als ernsthaft bedroht an. Solange sich die Mehrheit für die Demokratie stark macht, wird sie allen Gefahren trotzen.

Der Philosoph Peter Sloterdijk sagte 2017, zur Abschaffung von Demokratie eigne sich nichts besser als Demokratie. Nach dem Zusammenbruch des Sowjet-Imperiums hielt man die Demokratie für die einzig richtige Staatsform, ihren Siegeszug weltweit nur noch für eine Frage der Zeit. Der US-amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama sprach 1992 gar vom Ende der Geschichte. Glauben Sie an eine weitere Verbreitung der Demokratie oder eher an ihren zukünftigen Bedeutungsverlust?

Wenn die Geschichte eines gezeigt hat, dann, dass es ein „Ende der Geschichte“ nicht gibt, solange es Menschen gibt. Insoweit lässt sich schwer sagen, was die Zukunft bringt. Dem Satz von Sloterdijk stimme ich insoweit zu, als sich die Demokratie mit ihren Feinden üblicherweise schwerer tut als andere Staatsformen. Weltweit erleben wir Staaten, in denen sich demokratische Grundsätze zunehmend durchsetzen, und solche, in denen die Demokratie in ernsthafter Gefahr ist. Für einen Staat, der auf einem humanistischen aufgeklärten Menschenbild beruht, ist sie in meinen Augen – bei allen Schwächen, die sie im Einzelfall haben mag – eindeutig die beste Staatsform, die wir bisher haben. Ich glaube daher auch, dass sie sich – mit Rückschlägen – als Idee weiter durchsetzen wird.

Glauben Sie an einen kausalen Zusammenhang zwischen prosperierender Wirtschaft und funktionierender Demokratie?

Ja, vor allem mit Blick auf den demokratischen Rechtsstaat. Oft wird sich eine funktionierende Wirtschaft gerade dort entfalten können, wo sichere Rahmenbedingungen durch einen funktionsfähigen Rechtsstaat gewährleistet werden. Wir erleben immer wieder, dass sich Unternehmen selbst aus zukunftsträchtigen Märkten zurückziehen, weil sie in rechtsunsicheren Staaten nicht investieren wollen. Selbst aus einer traditionsreichen Demokratie wie Großbritannien ziehen sich Unternehmen zurück wegen der Rechtsunsicherheit im Hinblick auf den Brexit. Die Demokratie wiederum sorgt dafür, dass die Menschen an den politischen Rahmenbedingungen mitwirken können, innerhalb derer sich die wirtschaftlichen Aktivitäten entfalten.

INTERVIEW  Dr. Helmut Schmidt