Energiepolitik Die radioaktive Büchse der Pandora

Trotz des Pariser Klimaabkommens, trotz der globalen Bewegung der Klimaschutzaktivisten, trotz Fridays for Future, trotz Fukushima und anderer sicherheitsbedenklicher Vorfälle in kerntechnischen Anlagen in der Vergangenheit bleibt der Paradigmenwechsel – dass Umweltinteressen nämlich nicht mehr bloß als Interessen zukünftiger Generationen verstanden werden – auch bei der längst umstrittenen Atomenergie aus. Die aktuellen Debatten um Laufzeitverlängerungen der AKWs in Deutschland im Zusammenhang mit dem Kohleausstieg demonstrieren das eindrücklich. Wider besseres Wissen wird die glühende Technologie weltweit als saubere, sichere und klimaneutrale Energiegewinnung und -versorgung (v)erklärt und als wirtschaftlicher Wachstumsmotor begriffen.
Diese gloable Atomeuphorie hält sich hartnäckig seit mehr als 60 Jahren: Als die Großmächte USA, Sowjetunion, Frankreich und Großbritannien auf der Genfer Atomkonferenz im August 1955 ihre Errungenschaften in der zivilen Nutzung der Kernenergie vorführten, wurde diese Euphorie entfacht. Für Deutschland war diese Zukunftstechnologie vor dem Hintergrund des Wiederaufbaus nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges besonders attraktiv. Schnurstracks hatte Bundeskanzler Adenauer wenige Wochen darauf das Bundesministerium für Atomfragen ins Leben gerufen, dessen erster Atomminister der bayerische CSU-Politiker Franz-Josef-Strauß war.

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Die Atommüllproblematik

Anfang Juni verkündete das hessische Umweltministerium, dass die allerletzten Castor-Behälter mit radioaktivem Brennstoff ins Zwischenlager des AKW Biblis, das sich auf dem Gelände befindet, verwahrt worden seien. Jetzt dauere es noch mehrere Jahre, um die Anlage komplett von radioaktiven Stoffen zu dekontaminieren. Im Jahr 1987, nur ein Jahr nach der verheerenden Reaktorkatastrophe von Tschernobyl, kam es in Biblis auch zu einem Störfall. Wie der „Spiegel“ damals berichtete, trat aufgrund eines Bedienungsfehlers hochradioaktives Kühlwasser aus, sogar eine Kernschmelze drohte, hätte man das Sicherheitsproblem nicht schnell in den Griff bekommen. Zwei Aspekte in diesem Fall sind besonders interessant und charakteristisch für den Umgang mit der Atomenergie. Zum einen die selbsttäuschende Sicherheitskultur, dass man die gewaltige Energietechnologie unter Kontrolle habe. Zum anderen der internationale Konsens, das radioaktive Industriematerial in den Tiefen der Erde zu vergraben.

Die Entsorgung richtet sich auf das Endlagerkonzept des radioaktiven Abfalls in geologischen Formationen. Dabei werden die toxischen Stoffe aus der Kernenergieproduktion bis zu 1000 Meter unter Tage mittels natürlicher und technischer Barrieren von der Biosphäre isoliert. Unter der finnischen Halbinsel von Olkiluoto wird derzeit das weltweit erste Endlager, ein unterirdisches 60 Kilometer langes Tunnelsystem, fertiggestellt. Die Lagerstätte soll die nächsten 100.000 Jahre unbeschadet bestehen, sogar Eiszeiten überstehen. Das sind Zeitkategorien und Zukunftsszenarien, die die menschliche Vorstellungskraft zumindest herausfordern. Geologen warnen bei diesem Lösungskonzept insbesondere vor dem lithostatischen Druck, der sich ausgehend vom Gewicht der überliegenden Gesteinsschichten auf das Endlagermaterial auswirkt.
Besonders beunruhigend ist die Unvorhersagbarkeit der Dinge. Eiszeiten mal gedanklich in die Ecke geschoben: Aber wer kann kriegerische Auseinandersetzungen mit ihrer Zerstörungskraft, wie wir sie in der nicht allzu fernen Geschichte bereits erlebt haben, für die gefühlte Ewigkeit ausschließen? Sicherlich, die Endlagerung strahlenden Atommülls ist die bis heute sicherste, weil alternativlose, Lösung. In den 1970er-Jahren kursierten noch ernsthaft diskutierte waghalsige Ideen, die radioaktiven Abfälle einfach ins Weltall zu katapultieren oder unter dem Meeresboden zu lagern (Flowers Report der britischen Royal Commission on Environmental Pollution).

Eine Mammutaufgabe

Überall auf der Welt fällt in der Industrie, in der Wissenschaft, beim Militär und in der Medizin, wie zum Beispiel bei Krebsbehandlungen, radioaktiver Müll an. Allgemein wird zwischen schwach-, mittel- und hochradioaktivem Abfall unterschieden. Als radioaktiv bezeichnet man diejenigen Stoffe, deren Atomkern im Aufbau instabil ist, auch Radionuklide genannt. Tatsächlich zerfallen diese Atome und produzieren dabei Energien oder präziser: Strahlungen. Kommen Lebewesen unmittelbar in Kontakt mit radioaktiven Stoffen und deren ionisierenden Strahlungen, so ist es möglich, dass sie Zellstrukturen im Organismus durchdringen und verändern. Das kann gesundheitsschädliche Auswirkungen auf die von Strahlung exponierten Lebewesen zur Folge haben, so zum Beispiel die Schwächung des Immunsystems und die damit verbundene wahrscheinlichere Anfälligkeit für diverse Erkrankungssymptome wie Übelkeit, Fieber oder Schwindel. Ist die Strahlendosis noch höher, so erhöht sich auch die Wahrscheinlichkeit des Krebsrisikos und allgemein der Sterblichkeit.

Die Internationale Atomenergie-Organisation (IAEA) in Wien schätzt die Zahl des weltweiten Atommülls heute auf 65 Millionen Tonnen, das meiste davon befindet sich in den USA. In Deutschland soll bis 2031 ein Ort für die Endlagerung ausgewählt sein, was einige Experten für schlichtweg illusorisch halten. Angesichts unterschiedlicher radioaktiver Stoffe mit ihren jeweiligen Halbwertszeiten, unterschiedlichen Aggregatzuständen und ihrer radiotoxischen Wirkung ergibt sich eine Vielzahl langfristig sicherheitstechnischer Anforderungen an die Baukonstruktion des Endlagers, um wiederum das Auftreten von Risiken jeder Art so dauerhaft unwahrscheinlich wie möglich zu machen. Eine Entscheidung für einen Standort muss aber trotz der Unwägbarkeiten sowie hypothetischer und akuter Gefahren getroffen werden. 2017 hat sich der Bundestag mehrheitlich für die Endlagerung ausgesprochen.

Politisch lässt sich mit der Frage der Endlagerung von Atommüll natürlich kein Blumentopf gewinnen, das weiß auch die Bundesregierung. Mit Spannung kann man deshalb auch die in naher Zukunft gemachten Vorschläge für Endlagerstätten in Deutschland erwarten. Der öffentliche Druck und der zu erwartende Widerstand der Bürger in der betroffenen Region wird neuen Wind in die Diskussion bringen. Denn: Nehmen Sie gerne den Müll ihrer Nachbarn entgegen? Es wird eine Mammutaufgabe werden, die öffentliche Akzeptanz zur Planung und Verwirklichung eines Endlagers einzuholen, man denke da nur an Gorleben.  
Ist schließlich eine letzte Stätte für das nukleare Abfallmanagement gefunden, drängen sich noch ganz andere, vor allem kommunikative Probleme auf: Wie übermittelt man zukünftigen Generationen die Information, dass ein Ort lebensgefährlich ist? Wie muss eine Nachricht semiotisch und semantisch enkodiert sein, damit sie in 500 Jahren noch richtig interpretiert wird? Soll eine Atompriesterschaft, ein regierungsunabhängiges Gremium, mithilfe von Ritualen Menschen daran erinnern, dass dort oder dort eine tödliche Gefahr lauert und man besser nicht buddelt? Können sogenannte „Strahlenkatzen“ als lebendige Detektoren helfen? Diese Ideen muten absurd an, sie veranschaulichen aber auch die Verzweiflung über ein schier unlösbares, immer wieder zeitlich verschobenes Problem der Menschheit.

TEXT Enrico Blasnik