Die Branche fragt sich nicht mehr, ob der Verbrenner vom Markt verschwinden wird, sondern nur noch, wann dies der Fall sein wird. Die jüngste und noch lange nicht überstandene Corona-Krise wirkt hier wie ein Brandbeschleuniger. Bereits strauchelnde Unternehmen werden vollends aus der Bahn geworfen, leben aber dank Staatshilfen und abgemildertem Insolvenzrecht als „Zombiefirmen“ weiter und werden damit erst recht zum Risiko für ihre Kunden. Die bisher erfolgsverwöhnte Autobranche kämpft nun mit langfristig stark sinkenden Stückzahlen, Existenznot auf Lieferantenseite und der kollektiven Umorientierung eines gesamten Industriezweigs. Insbesondere die deutsche Zuliefererindustrie stellt dies vor nie gekannte Herausforderungen: Der sinkenden Nachfrage nach ihren Komponenten und Systemen stehen bis zu 15 Jahre vereinbarte Lieferverpflichtungen an die OEMs (Erstausrüster) gegenüber. Dieser sogenannte Ramp-down macht einen schnellen Ausstieg unmöglich und zwingt alle zu einer Neuausrichtung der Lieferantenstrategien und -beziehungen.

Zunehmender Protektionismus verschärft die Lage
Zeitgleich erleben wir weltweit ein weiteres Schreckensszenario, das noch vor wenigen Jahren als Kassandraruf abgetan worden wäre: Nach vielen Jahrzehnten der Globalisierung erfahren wir zunehmenden Protektionismus und als Folge eine Re-Nationalisierung der Lieferketten. Hier schließt sich der Kreis für die deutsche Automobilindustrie: Während die Branche hierzulande mit fundamentalen Existenzängsten konfrontiert ist, kann auch nicht ohne Weiteres auf Alternativen in Übersee zurückgegriffen werden, was die Versorgungsrisiken und den kommerziellen Druck weiter erhöht.
„Nach vielen Jahrzehnten der Globalisierung erfahren wir zunehmenden Protektionismus und als Folge eine Re-Nationalisierung der Lieferketten“
Eines ist klar: Alte Muster und Erfahrungswerte gelten nun nicht mehr. Was also tun? Als Spieltheoretiker und damit Experte auf dem Gebiet der strategischen Interaktion ist die Analyse der Ramp-down-Situation eine einfache: Konnten ehemals alle Beteiligten auf kontinuierliche Geschäftsbeziehungen in wachsenden Märkten mit ausreichend Folgegeschäft vertrauen (wir nennen dies „wiederholtes Spiel“), wandelt sich die Situation nun zu einer, in der alle ihre Schäfchen schnell und endgültig ins Trockene bringen müssen, da Neugeschäft fehlt („Endspiel“). Im wiederholten Spiel kann mit dem Versprechen einer glorreichen gemeinsamen Zukunft bezahlt werden; im Endspiel geht dies nicht, man wird auf die in dieser „endlichen“ Perspektive verfügbaren Strategien zurückgeworfen. Insbesondere das Androhen eines Entzugs von Geschäft wird unglaubwürdig und deshalb leichter mit einem „dann lieber ein Ende mit Schrecken“ beantwortet. Für das Machtgefüge zwischen Kunden und Lieferanten hat dies unmittelbare Auswirkungen: Hersteller müssen aussortieren, aber das geschieht in einer Situation extremer Ungewissheit. Viele Lieferanten werden den entstehenden Mengenrückgang nicht kompensieren können und den Markt verlassen, zukunftsfähige Lieferanten werden deshalb ein knappes Gut. Diese sehen sich zudem aufgrund der Endspielstruktur in ihrer Position gestärkt, und es kommt vermehrt zu (Preis-) Nachforderungen.
Bewährte Strategien funktionieren nicht mehr
Um mit dieser komplexen Situation in einem hoch disruptiven Umfeld adäquat umzugehen, braucht es komplett neue Leitplanken: „Alte Tricks“ die im Wachstum funktioniert haben, werden nicht mehr greifen. Wie kann die Spieltheorie hier helfen? Im Einkauf ist sie dafür bekannt, Verhandlungsmacht aufzubauen oder zu stärken und so dem Einkäufer bessere Ergebnisse zu ermöglichen. Doch auch bei einem radikalen Branchenumbruch kann sie den entscheidenden Wettbewerbsvorteil verschaffen: Sie liefert nicht nur den Rahmen für eine umfassende Analyse aller Akteure, ihrer Strategien und möglicher Outcomes oder für die Herleitung der „besten Antwort“ auf das neuartige Umfeld. Sie ermöglicht es vielmehr, gestaltend in „das Spiel“ einzugreifen und die Regeln zum eigenen Vorteil zu verändern.
TEXT Dr. Birgit Moritz, TWS Partners AG